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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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das gefährliche Tränengas «Tscheremucha» (Faulbeere) ein. In den nächtlichen Kämpfen fanden 19 Demonstranten den Tod, 290 wurden verwundet. Aufseiten der Militärs gab es rund 100 Verwundete.
    Hand in Hand forderten Esten, Letten und Litauer die Wiederherstellung der 1940 verlorenen Unabhängigkeit ihrer Länder
    Die georgische Opposition klagte Gorbatschow an, dass er die Intervention angeordnet hätte, was dieser vehement leugnete – angesichts seiner tatsächlichen Machtbefugnisse eine merkwürdige Reaktion, die vor allem bei der Armee das Gefühl erweckte, vom Präsidenten im Stich gelassen worden zu sein. Ähnlich wie die Kundgebung in Alma Ata in Kasachstan verwandelte sich die blutige Nacht vom 8. April zum Teil des Gründungsmythos des unabhängigen Georgien – einer der unruhigsten Ecken der zerfallenden UdSSR.
D IE M ENSCHENKETTE
    Die Paradoxie der Lage äußerte sich darin, dass jeder Schritt in Richtung größere Freiheit auch die Desintegration des Vielvölkerstaates mit sich brachte. Dabei war es noch harmlos, wenn eine nationale Bewegung kollektiven Gesang als Kampfmittel verwendete – wie in Estland auf dem Sängerfestplatz, wo 300.000 Menschen gleichzeitig Volkslieder und auchdie Nationalhymne aus dem Jahre 1920 sangen. Zur gleichen Zeit veröffentlichte ein Verlag in Wilna auf Litauisch und Russisch die Geheimdokumente zum Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland von 1939, die die «Legitimationsgrundlage» der Okkupation der baltischen Länder bildeten. Dies war bereits eine direkte Vorstufe des Kampfes um die Unabhängigkeit. Über diese Geheimprotokolle wurde damals sehr viel diskutiert. Die sowjetische Führung schickte den Historiker Lew Besimenskij nach Bonn, um die Frage der Echtheit dieser Texte zu klären. Noch während sich aber die Sowjets um die Klärung dieser Frage bemühten, mussten sie andauernd erleben, dass etliche Völker kein Problem damit hatten, auch ohne Archivrecherchen ihr Streben nach Loslösung von Moskau zu begründen. Im Jahre 1989 begann der Ostblock zu zerfallen.
D ER D OMINOEFFEKT
    Auf die Entscheidung der KPdSU vom 11. Januar 1989, pluralisierte Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten abzuhalten, reagierten zwei politische Verbündete des Kremls so, als hätten sie nur darauf gewartet. Am 17. Januar entschied sich die polnische KP-Führung für den politischen Pluralismus, am 13. Februar erklärte das ZK der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei die Bereitschaft, das Mehrparteiensystem zu akzeptieren. Die polnischen Funktionäre konnten sich in noch höherem Maße auf das Moskauer Vorbild berufen, denn in Polen entstand außer der Solidarność keine nennenswerte politische Bewegung, auch keine Partei. Während der Verhandlungen am Runden Tisch herrschte ein gewisses Einvernehmen darüber, dass man diese nicht beenden konnte, ohne eine Vereinbarung unterzeichnet zu haben. Henryk Wujec, Dissident der Siebzigerjahre, brachte diesen zwingenden Umstand auf den Punkt: «Wir wussten, dass beide Seiten unterzeichnen mussten. Die Kommunisten konnten nicht noch einmal das Kriegsrecht einführen. Ihre einzige Alternative war, noch einmal lange Jahre Apathie und das No-future-Programm zu haben. Und wir, wir waren sehr schwach. Unsere Streiks 1988/89 waren sehr schwach.» Ähnliche Worte für die Gemeinsamkeit der Kontrahenten fand der Initiator des Runden Tisches, General Jaruzelski, als er der Historikerin Claudia Kundigraber im April 1994 sagte: «Tatsächlich war die eine wie dieandere Seite schwach. Die Streiks scheiterten, und dass die Solidarność schwach war, dazu können Sie Lech Wałęsa und Jaroslaw Kaczyúski fragen, sie haben zu dem Thema veröffentlicht. Sie waren schwach, schwach. Und wir waren auch sehr schwach.» Nach der ersten Plenarsitzung im Präsidentenpalast fanden die meisten Verhandlungen in der hübschen Siedlung Magdalenka bei Warschau mit ihren Datschen für Funktionäre statt, wohin die Teilnehmer in sogenannten Mikrobussen gefahren wurden.
    Der von Bronisław Geremek und Stanislaw Ciosek geleitete Haupttisch Politik beschäftigte sich mit der Frage der Machtverteilung. Man dachte einvernehmlich an das Vorkriegsmodell: ein Zweikammernparlament mit dem Sejm als Nationalversammlung und dem Senat als Oberhaus sowie die Institution eines starken Präsidenten, eindeutig auf Jaruzelski zugeschnitten. Auch außerhalb der Tafelrunde kam es zu einem informellen Gedankenaustausch. Der Premier Rakowski nannte diese

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