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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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Sprachregelung noch ein Tabu. Die 1977 entstandene kleine Gruppe der demokratischen Opposition schlug bereits im Mai 1987 einen in der ungarischen Politik seit Jahrzehnten unbekannten Ton an: «Der Konsens ist zu Ende. Das Land hat begriffen, dass die Machthaber ihre Versprechungen nicht halten werden. Die Folgen des ökonomischen Verfalls haben nun die Elite der Arbeiterschaft und die geistigen Mittelschichten erreicht. (…) Es gibt eine Sache, mit der heute vom Arbeiter bis zum Parteikader alle einverstanden sind: Kádár muss gehen!» So hieß es in ihrem Aufruf, der mit einer primitiven Vervielfältigungsmaschine gedruckt und über ungarischsprachige Auslandssender ausgestrahlt wurde. Zur gleichen Zeit forderte die Gruppe der sogenannten «Reformökonomen» unter dem Titel «Wende und Reform» die Anpassung der ungarischen Ökonomie an die Weltwirtschaft und die Schaffung wahrer Marktverhältnisse. Sie befürwortete den Rückzug der Partei aus der Wirtschaft, was zumindest teilweise mit dem Verzicht auf die «führende Rolle» der USAP gleichbedeutend war, indem sie unverblümt verkündete: «Die Zeit ist reif für eine ausgedehnte, radikale, demokratisierende, dezentralisierende, deregulierende Marktreform.»
    Die dritte Strömung, mit der die Mannschaft der USAP rechnen musste, bildeten die «Volkstümler», eine Gruppierung im Rahmen der staatlich erlaubten Kultur, deren bevorzugtes Thema die ungarische Identität sowie die sprachliche und politische Diskriminierung der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten, vor allem in Ceauşescus Rumänien, war. Sie forderte eine stärkere Verantwortung der Regierung für die «Schicksalsfragen der Nation» und hatte Differenzen mit den offiziellen Kreisen, wenn es um die Einschätzung der neueren Geschichte, hauptsächlich des Volksaufstands von 1956, ging. Die Volkstümler waren die Ersten, die weit über verbale Erklärungen hinaus auch organisatorisch auftraten: Im Herbst 1987 gründeten sie in der Gemeinde Lakitelek bei Kecskemét das Ungarische Demokratische Forum, das nach der Wende zur größten Regierungspartei der Republik wurde. Das Kommuniqué der Gründungskonferenz war in jenem pathetisch-romantischen Stil gehalten, der die nationale Tradition ansprechen sollte: «Die hier die Chancen des Magyarentums erforschendenAnwesenden und zu diesem Zweck Beitragenden versuchten im Zeichen der Nüchternheit und Überlegtheit, die Art und Weise der Entfaltung, der unumgänglichen Erneuerung und der wirklich wirksamen Reformen zu erörtern.»
    Gemeinsam war diesen Neubildungen, die man angesichts ihrer späteren Rolle als Vorparteien bezeichnen kann, dass keine von ihnen das Machtmonopol der Partei offen infrage stellen wollte. Es wäre ungerecht, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. In Ungarn hielten sich zu dieser Zeit noch die «provisorisch stationierten sowjetischen Truppen» auf – immerhin 200.000 Soldaten mit 27.000 Panzern und Militärfahrzeugen. Im Rahmen des damals für möglich Erachteten suchten die Sozialliberalen und Nationalkonservativen, nicht anders als die polnische Opposition, nach einem Minimalkonsens mit den Herrschenden.
    Aufseiten der Machthaber fand man auf Ungarns kommunistischem Parnass zunächst nur einen Ansprechpartner – den Volksfrontchef Imre Pozsgay. Auch die Vorstellung, man müsse nach einem Konsens suchen, wurde begrifflich durch ihn geprägt. Die «allgemeine nationale Übereinstimmung», ein Terminus mit einem Klang aus dem frühen 19. Jahrhundert, wurde von ihm in den Diskurs eingeführt. Der Funktionär Pozsgay, ein früherer Kulturminister, hatte bereits aus der polnischen Krise 1980/81 die Konsequenz gezogen, dass sich die herrschende Partei legitimieren und ihre führende Rolle durch Dienst am Gemeinwesen quasi neu verdienen müsse. Die zu bloßer Fassade gewordenen Organisationen, Gewerkschaften und Berufsverbände müssten zu echtem Leben galvanisiert werden, und selbst der Sozialismus brauche statt des bisherigen Kommandosystems einen Konsens, in dem sich auch Gruppeninteressen repräsentiert fühlten. Dies war angesichts der starken Position der Konservativen an der Parteispitze zunächst ein Spiel mit dem Feuer, mit dem der Politiker sich damals am Rande der Salonfähigkeit befand. Aber die Pluralisierung der Gesellschaft konnte nicht mehr aufgehalten werden. Im April 1988 wurde im Budapester Café «Ma Chérie» der unabhängige Jugendverband Fidesz gegründet, damals ein liberales Generationsprojekt, in

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