Lebt wohl, Genossen!
9. Dezember 1988 an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte teilzunehmen. Bereits am Flughafen Charles de Gaulle, wo ihn der französische Präsident Mitterrand empfing, bat er auf einer Pressekonferenz um internationale Hilfe für die Erdbebenopfer.
Dies war Sacharows erste Auslandsreise. Das Politbüro muss vorher beraten haben, ob er als Schöpfer der sowjetischen Wasserstoffbombe nicht als Geheimnisträger und damit Risikofaktor gelte. Offensichtlich beurteilteman jedoch das Risiko eines Imageverlustes, wenn man die Reise verhinderte, als größer.
Dennoch hörte Sacharows Überwachung selbst in Paris nicht auf. Nach Beendigung der offiziellen Termine, kurz vor der Rückreise nach Moskau, ging das Ehepaar Sacharow-Bonner wie gewöhnliche Touristen spazieren und einkaufen. «Nun jedoch waren wir von den Sicherheitsvorkehrungen nahezu gefesselt», schreibt Sacharow in seinen Memoiren. «Immerhin stiegen wir zum Montmartre hinauf, schauten uns Sacré-Cœur an und sahen die berühmten Straßenmaler. Wir wollten zur Place Pigalle hinuntergehen und dort Lurexstrümpfe für unsere modebewussten Mädchen in Moskau kaufen, doch die Sicherheitsbeamten ließen es nicht zu, da sie Angst vor der Menschenmenge und etwaigen Verbrechern hatten. (…) Während wir durch eine Straße mit Sexläden und Kinos fuhren, die Filme entsprechenden Inhalts zeigten, entdeckten wir ein verträumtes Paar, das friedlich spazieren ging: Es waren Bulat Okudschawa und seine Frau. Dass wir nach Paris hatten reisen müssen, um ihnen wieder zu begegnen …»
Sowohl Gorbatschow als auch Sacharow kamen von ihrer kurzen Weltreise in ein Land zurück, das von den Ereignissen in Armenien geprägt wurde. Es war eine doppelte Tragödie: eine tektonische mit mindestens 25.000 Toten und einer Million Obdachlosen und eine politische, die inzwischen auch Blutopfer verlangte und Zigtausende Menschen zu Flüchtlingen machte. Zunächst war es der Kampf zwischen Armeniern und Aserbaidschanern – blutige Pogrome auf beiden Seiten, nunmehr ganz unabhängig vom ursprünglichen Zankapfel Berg-Karabach. Gemeinsam mit der Unabhängigkeitsbewegung in Georgien drohte der Konflikt den ganzen Kaukasus in Brand zu stecken. Die Zentralregierung reagierte langsam und widersprüchlich, und es gelang ihr nicht, beide Seiten zur Vernunft zu bringen. Vielmehr wurde die Feindschaft weiter angeheizt. Auf den Spuren des Parteichefs reiste Sacharow mit einer Gruppe von Menschenrechtlern nach Eriwan, aber auch ihre Vermittlertätigkeit konnte die mörderische Dynamik nicht aufhalten.
Die armenische Enklave in Aserbaidschan Berg-Karabach möchte sich dem Mutterland anschließen – Anfang eines blutigen Konflikts
R ÜCKZUG AUS A FGHANISTAN
Dabei hatte das Riesenreich mehr Beruhigung nötig denn je. Das Jahr 1989 wurde von zwei historischen Ereignissen eingeleitet: Am 15. Februar verließen die Sowjettruppen unter Führung des Generalmajors Boris Gromow über die Termezbrücke Afghanistan. Am 26. März fanden die ersten halbwegs freien Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten der UdSSR statt. Zum ersten Mal wurde den offiziellen «gesellschaftlichen Organisationen» das Recht eingeräumt, eigene Kandidaten nach einem vorher festgelegten Proporz zu stellen: 750 von der Kommunistischen Partei, 100 von der kommunistischen Gewerkschaft und 75 vom Kommunistischen Jugendverband, was eine massive Mehrheit der insgesamt 1500 Abgeordneten garantieren sollte. «Njeformali» (Informelle), Andersdenkende und Dissidenten, die auf der Liste von kleineren Organisationen kandidierten – Andrej Sacharow vertrat die Akademie der Wissenschaften –, hatten praktisch kaum Möglichkeiten, in den großen Medien zu erscheinen. Trotzdem waren die Wahlen vergleichsweise demokratisch. Zum einen handelte es sich um Namenslisten, und so konnten die Wähler, wenn auchnicht zwischen Parteien, aber wenigstens zwischen Personen der Öffentlichkeit wählen. In dieser Situation stimmten die Leute vor allem für diejenigen, die sie als authentische Anhänger der Perestroika kannten. In der Hauptstadt bedeutete dies einen erdrutschartigen Sieg des Hauptkandidaten der demokratisch eingestellten Stadtorganisation der KPdSU – Boris Jelzin erhielt 90 Prozent der Stimmen. In den Sowjetrepubliken – vor allem im Baltikum und im Kaukasus – eroberten die Kandidaten der volksfrontartig organisierten nationalen Opposition die Mehrheit. Selbst auf der zentralen Liste der Partei
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