Lebt wohl, Genossen!
3. Juli 1989 der Leitartikel des Chefredakteurs mit dem später legendären Titel «Wasz prezydent – nasz premier» (Euer Präsident – unser Premier):
«In nächster Zeit wird über das politische System in Polen entschieden. Bisher weckte die Person des Präsidentschaftskandidaten die meisten Emotionen. Es ist schlecht, wenn in solch einer Situation Erinnerungen und Rhetorik die Oberhand gewinnen. Versuchen wir die Sache in Ruhe unter die Lupe zu nehmen. (…) Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Dem Land drohen gesellschaftliche Ausschreitungen und Unruhen. Der überwältigende Sieg der Solidarność während der Wahlen beweist, dass die Polen für eine grundlegende Veränderung eintreten. (…) Polen braucht jetzt eine starke und glaubwürdige Führung. (…) Jedoch liegt es nicht an den Menschen, sondern an den Mechanismen. Es ist ein neues System notwendig, das durch alle wichtigen politischen Kräfte approbiert wird. Ein System, das neu ist, aber eine Kontinuität garantiert. Solch ein System kann nur auf einem Abkommen basieren, aufgrund dessen ein Kandidat der PVAP zum Präsidenten gewählt wird und der Premierministerposten sowie die Aufgabe der Regierungsbildung einem Kandidaten der Solidarność zufallen. (…) Nur eine solche Zusammensetzung der Führungsgremien hat Chancen auf eine adäquate Hilfe bei dem Wiederaufbau der Wirtschaft des Landes.»
D ER B ESUCH DES P RÄSIDENTEN B USH SENIOR
In die Katerstimmung nach der historischen Wahlniederlage der PVAP platzte ein von langer Hand geplanter Besuch hinein: Der Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush senior, landete auf seiner Europatour am 9. Juli auf dem Warschauer Flughafen. Er war ein wenig irritiert, weil er wusste, dass der polnische Staatschef, der ihn auf der Rollbahn erwartete, der große Verlierer der letzten Wahlen war und es so aussah, als ob dieser recht wenig Lust hätte, sich für eine neue Kandidatur zur Verfügung zu stellen. Für den amerikanischen Präsidenten wäre es in diesemFall vielleicht richtiger gewesen, gleich nach Danzig zu fliegen, wo der aussichtsreichere Partner, der Oppositionschef Wałęsa, seiner harrte. Doch Bush erinnerte sich an die Begegnung mit beiden im Herbst 1987, als er den General trotz seiner kommunistischen Weltanschauung eindeutig sympathischer fand als den Querulanten von der Solidarność. Vermutlich deshalb führte er mit dem Staatschef statt der protokollarisch vorgesehenen kurzen Unterredung ein zweistündiges Gespräch. Und, so berichtete der Insider Strobe Talbott, «er vermittelte Jaruzelski das Gefühl, ein Staatsmann zu sein, der sein Land durch eine schwierige Phase zu lotsen versucht, «und nicht ein geschlagener Soldat, der beim Aushandeln der Kapitulationsbedingungen verzweifelt versucht, einen Rest von Würde zu bewahren».
Talbott behauptete sogar, der US-Präsident habe in seiner Gutmütigkeit den unsicheren, gestressten Kollegen förmlich aufgebaut und ihn zur Kandidatur ermuntert. Damit erntete er bestimmt kein Lob von den ungefähr sechs Millionen Amerikanern polnischer Abstammung, unter ihnen gestandene Kommunistenfresser. Dass der Bericht Talbotts keine spöttelnde journalistische Zuspitzung war, bestätigte der General selbst, als er in einem Interview des Schweizer Journals
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Anfang 2008 seine Version des Gesprächs wiedergab: «Ich wollte nicht Präsident werden. Es gab damals eine Welle von Anschuldigungen, (…) sodass ich offiziell verkündete, nicht fürs Präsidentenamt zu kandidieren. Im Juli 1989 stattete Präsident George Bush senior Polen einen Besuch ab. Geplant war ein Höflichkeitsbesuch, zehn Minuten beim Kaffee. Daraus wurden zwei Stunden (…) Als ich wusste, dass mich die Amerikaner unterstützen, habe ich zugesagt.» Bush schrieb dazu in seinen Memoiren: «Und ich musste einen kommunistischen Führer dazu überreden, Präsident werden zu wollen.»
Der hohe Gast bewegte sich fast schlafwandlerisch in dieser Welt zwischen gestern und morgen. Im Sejm versprach er Polen 15 Millionen Dollar zu ökologischen Zwecken sowie eine Aufstockung der Hilfe vom amerikanischen Kongress um weitere 100 Millionen. Dabei musste ihm inzwischen klar sein, dass seine Gastgeber von solchen Beträgen wenig begeistert waren. Überhaupt wollten in diesem Lande alle nur über Geld mit ihm reden. Der noch amtierende Premier Rakowski sagte zu ihm, nur scheinbar scherzend: «Sie haben, Herr Präsident, viele meiner Landsleute enttäuscht … (…) Man hatte einen
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