Lebt wohl, Genossen!
dessen Nachfolge heute Ungarns Regierungspartei, die nationalkonservative «Bürgerliche Allianz», steht. Darauf folgten reihenweise die offiziell als «neue Organisationen» bezeichneten Gruppen, unter ihnen Interessenvertretungen der Roma, jüdische Kulturvereine sowie die ersten Parteien, die diese Bezeichnung bereits offen trugen. Sie wurden, ähnlich wie die «Informellen» oder«Volksfronten» in der UdSSR, zunächst weder anerkannt noch verboten – hierzu fehlte der weich gewordenen Diktatur bereits die Kraft. Eine Übersicht zu dieser wilden Entwicklung bot eine ungehindert und unzensiert gedruckte Broschüre. Sie zeigt auf dem Titelblatt ein Ei, dessen Schale sich gerade öffnet.
Nach vier Jahrzehnten Parteiherrschaft wird in Ungarn politischer Pluralismus praktiziert. Ein «Katalog der neuen Organisationen» informiert über mehr als 80 oppositionelle Gruppen (1988)
Das Jahr 1988 brachte in Ungarn eine weitere qualitative Neuerung mit sich: Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten fanden inoffizielle Kundgebungen statt, so der Protest der Umweltschützer gegen das Wasserkraftwerk Nagymaros/Gabcikovo sowie eine gewaltige Demonstration aller neuen Gruppen gegen den Dorfzerstörungsplan des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu. Polizeilich verhindert wurde nur noch eine geplante Gedenkveranstaltung am 23. Oktober, dem Jahrestag des Volksaufstands von 1956. Offensichtlich fiel es den Machthabern ausgerechnet in dieser Frage am schwersten, über den eigenen Schatten zu springen. Sie wollten wohl auch János Kádár persönlich schonen, der zu dieser Zeit rein nominell noch als Ehrenvorsitzender der Partei fungierte.
Den wahren Dammbruch im Demokratisierungsprozess stellte schließlich die Ablösung des Parteichefs auf der Landeskonferenz im Mai 1988 dar. Heute wissen wir, dass dieser Schritt nicht ohne Moskaus Zutun erfolgte.Um seine Perestroika bei den Verbündeten zu befördern, beschloss Moskau, den Abgang der Altherrenriege zu beschleunigen, und begann damit an der Donau. Angesichts von Kádárs skeptischer Haltung gegenüber den sowjetischen Reformen kam man im Kreml zu der Schlussfolgerung: «Über zuverlässige Kanäle könnte man Kádár die Auffassung vermitteln, dass diese Situation nichts Gutes verspricht, auch ihm persönlich nicht. Gleichzeitig müsste in akzeptabler Form geäußert werden, dass wir dem Genossen Grósz und einigen anderen ungarischen Führern politische Unterstützung gewähren.» Offenbar war Michail Gorbatschow zu der Einsicht gelangt, dass tiefgreifende Veränderungen, wie sie sich in Polen und Ungarn abspielten, auch anderswo im Ostblock unvermeidlich waren. Einen der Gründe, weshalb er es damit so eilig hatte, nannte er bereits im Juli 1986 im engen Genossenkreis: Die UdSSR wolle auf jede Führung der «Bruderstaaten» künftig verzichten, denn dies hätte bedeutet, so Gorbatschow, dass «wir sie uns auf den Hals laden.»
Treffen der Staats- und Parteichefs des Warschauer Vertrags, Sommer 1986. Gorbatschows Satz im Politbüro: «Wir brauchen keine Führung über sie» ist ihnen noch nicht zu Ohren gekommen
Die andere Ursache war seine wachsende Entschlossenheit, in der immer schwieriger werdenden Lage seines Landes pluralistische Strukturen inner- und außerhalb der Partei zu fördern – eine Flucht nach vorne, wie sich bald herausstellen sollte.
IV.
K ONTROLLVERLUST
( 1988–1989 )
Die Obduktion hat gezeigt,
dass die Ursache des Todes die Obduktion war.
Aphorismus aus dem Journal «Ogonjok», 1989
S OWJETUNION: D IE SCHWIERIGE G EBURT DER D EMOKRATIE
Im Prinzip hätten sie sich auch treffen können, der Vater der Perestroika und der führende sowjetische Menschenrechtler Andrej Sacharow, denn sie befanden sich zur gleichen Zeit in New York. Gorbatschow hielt am 7. November 1988 seine berühmte Rede vor der UNO, in der er eine zehnprozentige Senkung der sowjetischen Streitkräfte in Aussicht stellte – Sacharow nannte dies einen «Akt von staatsmännischer Kühnheit». Am Tag darauf traf sich der Parteichef mit Ronald Reagan und dem bereits gewählten, aber noch nicht amtierenden neuen Präsidenten George Bush. Als Gorbatschow gleich danach die Nachricht vom Erdbeben in Armenien vernahm, unterbrach er seine Reise, um so bald wie möglich am Unglücksort zu sein. Den Atomphysiker Sacharow, den dieselben amerikanischen Spitzenpolitiker empfingen, erreichte die Nachricht von der armenischen Katastrophe, kurz bevor er nach Paris reiste, um am
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