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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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die teilweise Todesopfer forderten, und mehr als 600.000 Menschen waren zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. Angesichts der Tatsache, dass bis Ende 1990 14 der 15 Bundesstaaten ihren Wunsch nach Souveränität erklärt hatten, kam den in diesen Ländern lebenden Russen, insgesamt 25 Millionen Menschen, inzwischen der Status einer nationalen Minderheit zu.
    Der neue russische Nationalismus wurde von der Frustration genährt, die die abtrünnigen Republiken und nationalen Minderheiten ausgelöst hatten. Man bestand nicht mehr auf der vom zaristischen Russland geerbten These des «einen und unteilbaren» Staates – man wollte vielmehr, dass sich all diese Esten und Armenier zum Teufel scherten. Die beleidigten Töne entstammten, wie so oft in Osteuropa, nicht dem Mund von Berufspolitikern,sondern kamen von Männern der Feder. So sprach der Schriftsteller und Volksdeputierte Walentin Rasputin im Juni 1989 von der Tribüne des Kongresspalastes im Kreml:
    Sajudis-Chef Landsbergis. Seine Unterschrift stand unter mehr als tausend Gesetzen und Verordnungen der neu gegründeten, aber von Moskau nicht anerkannten Republik Litauen. Der Zusammenstoß war vorprogrammiert
    «Der Russlandhass verbreitet sich im Baltikum und in Georgien, dringt auch in andere Republiken ein, in einige mehr, in andere weniger, aber überall ist er bemerkbar. Die antisowjetischen Losungen vereinigen sich mit den antirussischen. Emissäre aus Litauen und Estland reisen mit ihnen, Einheitsfront schaffend, nach Georgien. Von dort aus fahren die örtlichen Agitatoren nach Armenien und Aserbaidschan. Das ist kein Kampf mit dem bürokratischen Mechanismus, das ist etwas anderes. Hier auf dem Kongress sieht man gut die Aktivität der baltischen Deputierten, die auf parlamentarischem Wege Verfassungsänderungen vorschlagen, die ihnen ermöglichen, von diesem Land Abschied zu nehmen. (…) Ich überlege: Vielleicht wäre es besser für Russland, aus der Union auszutreten, wenn ihr es für alle eure Probleme anklagt und wenn Russlands Unterentwicklung und Schwerfälligkeit eure fortschrittlichen Bestrebungen verhindert.»
    Der Schriftsteller befand sich hier ganz auf dem Niveau der Verschwörungstheorien der rechtsnationalen Pamjat-Bewegung, insbesondere wasdie angebliche Verbrüderung der Kaukasier betraf. Jedenfalls lieh er seine Stimme dem traditionellen russischen Selbstmitleid, wie es bereits zu Breschnews Zeiten in Blüte stand, damals allerdings noch ohne Tribüne. In den Sechziger- und Siebzigerjahren fand man als geeignete Sündenböcke für die sowjetischen Missstände die Länder der Dritten Welt («die Neger»), nicht zuletzt Kuba, dessen Zuckerernte Moskau großzügig aufkaufte. Der Komplex «Wir helfen allen, und keiner liebt uns» gehörte fest zur Mentalität des in seinen Konsumwünschen gedemütigten Sowjetbürgers. Innerhalb des Landes, ob auf der Insel Sachalin oder an der Rigaer Bucht, ging es ständig um die zentralisierte bürokratische Redistribution, bei der sich alle Völker als benachteiligt empfanden und von den anderen hintergangen fühlten.
    Der andere schreibende Volksdeputierte, Wassilij Below, befasste sich während der zweiten Session des Kongresses im Dezember 1989 ebenfalls mit den Problemen «aus russischer Sicht» und zog gleich die politischen Konsequenzen: «Ich bin der Meinung, dass die Vergeudung von Russlands Naturschätzen fortgesetzt wird. Ströme von Erdöl und Gas, Millionen Tonnen von Mineralien und Erzen, Millionen von abgeholzten Fichten fließen und fließen in die anderen Republiken und ins Ausland. Das russische Volk ist betrogen, Russland beleidigt und erniedrigt. Ich muss die Forderungen wiederholen, die in Tausenden von Briefen und Telegrammen meiner Wähler und Leser gestellt worden sind. Erstens: Die Russische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik muss einen eigenen staatlichen Status erhalten …»
    Diese völlig absurd klingende Losung, «Russlands Unabhängigkeit von der Sowjetunion», erschien anfangs vielen als Hirngespinst von Literaten, die sich in die Politik verirrt hatten. Schließlich sang man landesweit die 1944 komponierte Hymne, die trotz der neuen, von Stalins Namen gesäuberten Version immer noch mit den Zeilen anfing: «Vor Russland, dem großen, auf ewig verbündet/steht machtvoll der Volksrepubliken Bastion./Es lebe, vom Willen der Völker gegründet,/die einige und mächtige Sowjetunion!» Mittlerweile war in dieser Konstruktion das Wort «ewig» fraglich geworden. Die

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