Lebt wohl, Genossen!
– sie erklärten sich sogar bereit, die Reisekosten der Moskauer Delegation selbst zu decken.Später entsandten sie eine Abordnung in die Hauptstadt, und als diese mit einer Vereinbarung zurückkehrte, die von Gorbatschow und dem Regierungschef Ryschkow unterzeichnet worden war, verwandelte sich der Protest in eine euphorische stadtweite Feier. Dabei ging es nicht um die zugesagten Lebensmittellieferungen – die Vereinbarungen wurden niemals vollständig erfüllt –, sondern vor allem darum, was der Leiter des Streikkomitees in den bewegten Worten zum Ausdruck brachte: «Zum ersten Mal fühlten wir uns nicht als graue Masse, sondern als Menschen. Nicht als Sklaven, sondern als Persönlichkeiten, die fähig sind, in Einigkeit, Disziplin und Solidarität zu siegen. Danke, Brüder, für die Einigkeit. Danke für das Vertrauen.»
D IE P ARTEI VERABSCHIEDET SICH VON IHRER FÜHRENDEN R OLLE
Schließlich blieb nur noch ein Tabu übrig, das in zwei Sätzen der Verfassung von 1977 benannt worden war und nun infrage gestellt wurde: «Die führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen ist die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Die KPdSU ist für das Volk da und dient dem Volk.»
Diese Formulierung wurde nach langer und heftiger Debatte im Politbüro durch das ZK-Plenum Mitte März fallen gelassen. Obwohl zu dieser Zeit bereits eine üppige sowjetische Parteienlandschaft existierte, war diese Entscheidung aufgrund ihrer Symbolik äußerst bedeutend und glich einem prinzipiellen Verzicht auf das Machtmonopol, das im Januar 1918 Lenins Bolschewiki durch die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung geschaffen hatten. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, bevor Artikel
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vom Kongress der Volksdeputierten infrage gestellt wurde, diskutierte das Politbüro diese heikle Frage auf seiner Sitzung vom 22. Januar 1990.
D IE FORMALE M ACHTABSAGE
MINISTERPRÄSIDENT RYSCHKOW «Praktisch sind wir bereits zum Mehrparteiensystem übergegangen. Ich sehe keinen anderen Weg. Die Volksfronten haben sich in politische Organisationen verwandelt. Entweder wir akzeptieren das nicht, oder aber wir gehen zu breiterem Demokratismus über mit den anderen Parteien. Das ist eine prinzipielle Frage. Man muss klar bestimmen, mit wem wir kämpfen und mit wem wir uns einigen können. Die anderen Parteien außer Gesetz zu stellen ist eine unrealistische Sache. Und man muss klarstellen, dass die KPdSU bei Aufrechterhaltung ihres Standpunkts bereit ist, mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten.»
ZK-SEKRETÄR LIGATSCHOW «Man muss das Einparteiensystem beibehalten und gleichzeitig eine Nationale Bürgerfront gründen, in der wir alle gesunden Kräfte vereinen. Und die Kommunisten verfügen darin über Schlüsselpositionen. Es muss klargestellt werden, dass die Beteiligung von Kommunisten in antisozialistischen Organisationen mit der Mitgliedschaft in der KPdSU unvereinbar ist.»
ZK-SEKRETÄR WOROTNIKOW «Wir dürfen die Parole des Mehrparteiensystems in diesem Augenblick auf keinen Fall verkünden.»
IDEOLOGIECHEF JAKOWLEW «Wir können nicht so tun, als wäre gar nichts geschehen. Wir müssen ehrlich sagen, dass die KPdSU um die Teilhabe an den staatlichen Organisationen mit den anderen wetteifern wird.»
MOSKAUER PARTEICHEF SAJKOW «Ich bin gegen das Mehrparteiensystem. Wenn wir es proklamieren, wird es den Parteikomitees schlecht ergehen. Sie werden zerrieben.»
ZK-SEKRETÄR MEDWEDJEW «Man kann es nicht so formulieren, ob wir es zulassen oder nicht zulassen. Unsere Position richtet sich nicht auf das Mehrparteiensystem. Alle Parteien leben für den Kampf um die Macht. Wir müssen über die Demokratisierung der Gesellschaft nachdenken. Wenn wir die Gesellschaft nicht umbauen, wenn wir die Partei nicht umbauen, dann führt kein Weg am Mehrparteiensystem vorbei.»
AUSSENMINISTER SCHEWARDNADSE «Der bereits existierende politische Mehrparteienpluralismus muss anerkannt werden.»
KGB-CHEF KRJUTSCHKOW «Wenn wir den Artikel
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nicht beibehalten,dann ist das Mehrparteiensystem unvermeidlich. Und dies versetzt der Partei einen Schlag.»
GENERALSEKRETÄR GORBATSCHOW «Wir müssen betonen, dass das Mehrparteiensystem allein kein Allheilmittel ist. Das Wesentliche liegt im System. (…) Wir haben es mit einer Dezentralisierung zu tun, und es fehlt an ausgleichenden Mechanismen. Das ist die Frage, die wir nicht verschieben können. Man braucht eine starke
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