Lebt wohl, Genossen!
Exekutive. Wie soll der Staatschef heißen: Vorsitzender oder Präsident? Vielleicht ein Kabinett mit präsidialen Funktionen auf dem Gebiet der Wirtschaft und Sicherheit.»
Die Genossen müssen während dieses Diskurses Tantalusqualen gelitten haben, etwa so, als müssten geborene Monarchisten und Angehörige des Hofadels eine Debatte über die Republik führen oder Kirchenfürsten über die Einführung des Atheismus im Priesterseminar reden. Man war bereit, die unlösbare Frage lieber einem aus dem eigenen Kreis kommenden «Philippe Égalité» zu überantworten. Die Funktionäre handelten eindeutig unter dem Druck der Angst, aber nicht vor den Informellen, Volksfronten oder der soeben in Entstehung befindlichen oppositionellen Interregionalen Deputiertengruppe. Vor allem nach der Massenkundgebung in Moskau am 25. Februar 1990 mit geschätzten 200.000 Teilnehmern hatten sie Albträume von einer Revolte à la Bukarest: Es quälte sie die nackte Angst vor dem Volk. Der Leningrader Parteisekretär Boris Gidaspow, ein aus der Industrie kommender Funktionär und ansonsten ein harter Bursche, gab auf einer Sitzung zu: «Ich fahre jeden Morgen zur Arbeit und sehe die Schlangen vor den Geschäften – hundert, manchmal tausend Menschen. Und ich denke: Jemand wirft plötzlich einen Stein in das Schaufenster, und in Leningrad bricht die Konterrevolution aus. Und wir können das Land nicht retten.»
D AS D RAMA L ITAUEN: E RSTER A KT
Zeitgleich mit den rumänischen Ereignissen schlug in Moskau eine Nachricht aus Wilna ein: Auf dem XX. Parteitag der litauischen KP hatte der Erste Sekretär Algirdas Brazauskas den Austritt seiner Partei aus der KPdSU deklariert. Gleichzeitig strich der Kongress den Artikel aus derlitauisch-sowjetischen Verfassung, der, ähnlich wie in den Grundgesetzen aller Sowjetrepubliken sowie in der Gesamtkonstitution der UdSSR, die führende Rolle der Partei garantierte. Dieses Vorgehen, das kein sowjetischer Nostradamus hätte prophezeien können, war nichts als Teil des Wettrennens der litauischen Nomenklatura mit der viel stärkeren Oppositionsbewegung «Sajudis», an deren Spitze der parteilose Vytautas Landsbergis stand. Der studierte Musikwissenschaftler hatte 1969 seine Doktorarbeit dem Œuvre des in der UdSSR äußerst populären Nationalkünstlers Čiurlionis (1875–1911) gewidmet. Dieser hatte als Komponist und Maler die Synthese dieser beiden Kunstarten angestrebt. Eine ähnliche Vision entwickelte der aus einer bekannten litauischen Familie stammende Bürgerrechtler für Litauen: die Synthese der traditionellen Nationalidee und der modernen Demokratie.
Sonata allegro – Gemälde von Čurlionis
Als die Nachricht aus der litauischen Hauptstadt in Moskau eintraf, läuteten im Kreml alle Glocken Sturm. Gorbatschow begriff sofort, dass die Haltung der baltischen Republik eine ähnliche Entwicklung in Estland und Lettland fördern würde und dass diese friedliche Sezession noch gefährlicher war als die Unruhen im Kaukasus oder in Zentralasien.
Gorbatschow rief in Wilna an und fragte den Parteichef: «Was ist los, Algirdas? Seid ihr verrückt geworden?» Zunächst wollte er, wie immer in ähnlichen Situationen, post festum das Feuer löschen. Er flog nach Litauen und versuchte durch seine persönliche Überredungskunst die Genossen von ihrer Spaltungsabsicht wegzubringen. Doch das nützte nichts mehr.
Auf dem Weg zum Flughafen Wilna saßen hinter dem Fahrer drei Personen in der Limousine: Brazauskas, Raissa Maximowna und Michail Sergejewitsch. Zunächst hätten sie alle geschwiegen, berichtet Gratschow. Dann sagte der Präsident halblaut vor sich hin: «Was ist eigentlich in sie gefahren?» Und dann, ohne Pause: «Es wäre gut, etwas zu trinken.» In diesem Augenblick muss ihm klar geworden sein, dass er die erste Schlacht um den Erhalt der Sowjetunion verloren hatte.
D IE RUSSISCHE K ARTE
Mitte Juni 1990 erklärte der I. Kongress der Volksdeputierten Russlands schließlich die Souveränität der größten und reichsten Sowjetrepublik – ein Schritt, der gegen Gorbatschows Machtanspruch gerichtet war, jedoch schon bald das Schicksal der Union besiegeln sollte. Das Riesenreich, bestehend aus 15 Sowjetrepubliken, mehreren Dutzend autonomen Republiken und Gebieten sowie nationalen Kreisen und von mehr als 100 Nationalitäten bevölkert, kam bereits ins Wanken und konnte allzu leicht von einem Strudel regionaler Auseinandersetzungen erfasst werden. Bis 1990 brachen etwa 5000 Unruhen aus,
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