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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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russische Karte lag plötzlich auf dem Tisch und wartete auf einen ernstzunehmenden Spieler, der sie als Trumpf verwenden konnte. Dieser Spieler hieß schließlich Boris Jelzin und war Gorbatschows Rivale.
R EFORMPLÄNE
    Die Lösung der Wirtschaftskrise wurde zumindest auf theoretischer Ebene in Angriff genommen. Im Auftrag der Regierung entstanden zwei Reformprojekte. Das eine Reformpaket der Ökonomen Grigorij Jawlinskij und Stanislaw Schatalin trug den Namen «500-Tage-Programm» und ging von einer schlagartigen Freigabe der Preise, einem rasanten Abbau der Rüstungsausgaben und der radikalen Hinwendung zur Marktwirtschaft aus. Der zweite Plan sah ebenfalls eine Kürzung der Staatsausgaben und Investitionen sowie rapide Preiserhöhungen vor – dennoch rechnete der Ökonom Leonid Abalkin mit einer Laufzeit von sechs bis acht Jahren. Einen Versuch, die beiden Projekte miteinander zu verknüpfen, charakterisierte Jelzin sarkastisch als «Versöhnung des Stachelschweins mit der Natter». In dem von ihm favorisierten «500-Tage-Programm» sollten die Verteidigungskosten um 50 Prozent gekürzt werden, was vom militärischindustriellen Komplex und dem KGB wohl kaum widerspruchslos zur Kenntnis genommen worden wäre. Allerdings konnte sich Jelzin in seiner Rolle als Oppositionsführer manche populistische Versprechungen erlauben, während Gorbatschow, dessen Prestige bereits schwer angeschlagen war, direkte Regierungsverantwortung trug. Möglicherweise kokettierte er mit der radikalen Rosskur nur deshalb, um vor seinem Kontrahenten ein wenig Ruhe zu haben. Als der Oberste Sowjet eher für Abalkins schonendes Programm votierte, brach in der Tat die Fehde zwischen Jelzin und Gorbatschow mit erneuter Kraft aus.
A M B ETTELSTAB
    Gleichzeitig wuchs die Auslandsverschuldung der Sowjetunion von 20 Milliarden Dollar im Jahr 1985 auf mehr als 100 Milliarden im Jahr 1990 an. Die Dynamik des Schuldendienstes wies verblüffende Ähnlichkeiten mit der polnischen von 1980/81 auf. Gleichzeitig ließ die ursprünglich hohe Kreditbereitschaft der westlichen Banken mit jedem Jahr nach. Zwar verweigerten sie nicht grundsätzlich alle neuen Kredite oder die Stundung der Altschulden, denn eine bankrotte Nuklearmacht war auch der freien Welt wenig geheuer. Trotzdem verlangten sie immer offenernach ökonomischen und politischen Garantien. So schlug einer der früheren großzügigen Kreditgeber, die Deutsche Bank, den sowjetischen Führern vor, die mangelnden Finanzmittel über Regierungskontakte durchzusetzen. Selbst in diesem Fall hätte der höchstmögliche Betrag 20 Milliarden Dollar nicht überstiegen, während die Experten einen 100-Milliarden-Dollar-Kredit für notwendig hielten, um im günstigsten Fall die marode Wirtschaft wieder anzukurbeln. Im Rückblick wissen wir, dass die Erneuerung der ökonomischen Strukturen des Riesenlandes erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Gang kam, als die russische Wirtschaft ein solides Wachstum erreichen konnte. Offensichtlich wäre dies ohne Systemwechsel kaum möglich gewesen.
    Die Schnellhilfe der Bundeswehr an die Sowjetarmee
    So oder so blieb der angeschlagenen Sowjetmacht in ihren letzten Jahren nichts anderes übrig, als um kleinere und weniger günstige Anleihen zu ersuchen und schließlich um humanitäre Hilfe zu betteln – eine ungeheuerliche Demütigung für die Supermacht. Kurz nach der deutschenWiedervereinigung gewährte die dankbare Bundesregierung dem ehemaligen strategischen Gegner eine großzügige humanitäre Lebensmittel- und Medikamentenhilfe. Aus dem Briefverkehr der Zentralen Verteilungskomitees ist einiges über die Inanspruchnahme der Hilfsgüter zu erfahren. Unter anderem reichte der stellvertretende Verteidigungsminister der UdSSR, Wiktor Archipow, folgenden Antrag ein: «Ich bitte Sie, acht Millionen komplette Tagesrationen (russ. «suchoj pajok») der Bundeswehrsoldaten, die aus Deutschland im Rahmen der humanitären Hilfe angeliefert worden sind, in die Häfen Leningrad, Reval und Memel zu verschicken, damit diese den Armeeangehörigen und deren Familien zur Verfügung gestellt werden können.» Der Inhalt bestand aus Dosenbrot, Hartkeksen, Wurst, Streichkäse, Konfitüre, Zartbitterschokolade, Kaugummi, Tee-Extrakt, Kaffee-Extrakt, Kaltgetränkepulver, Zucker, Speisesalz, Kaffeeweißer, Streichhölzern, Erfrischungstüchern und Toilettenpapier – eine ziemlich exakte Beschreibung der katastrophalen sowjetischen Mangelwirtschaft1991, also dessen, was man in der

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