Lebt wohl, Genossen!
heimlich geführten Tagebuch: «Osteuropa bröckelt ganz von uns ab, und das unaufhaltsam. Und es wird immer mehr sichtbar, dass das ‹gesamteuropäische Haus› – falls es dieses überhaupt geben wird! – ohne uns, ohne die UdSSR entsteht, und wir sollten einfach in seiner Nachbarschaft so leben, wie wir können.» Praktisch bedeutete dies, dass der sowjetische Einflussbereich auf das Niveau des Jahres 1939/40 zurückgefallen war.
G ORBATSCHOWS BITTERE L ORBEEREN
Am 4. Oktober nahm der sowjetische Präsident als Ehrengast an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl an den Feierlichkeiten zu Deutschlands Wiedervereinigung teil. Am 15. Oktober erhielt er die Nachricht, dass man ihm in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen hatte. Wie der empörte Tschernjajew berichtete, teilte die Armeeführung am 23. Oktober mit, Atomversuche auf der Insel Nowaja Semlja im Nordpolarmeer abhalten zu wollen, genau an dem Tag, der für die Nobelpreisrede ursprünglich vorgesehen war. KGB-Chef Krjutschkow legte in diesen Tagen jeden Morgen«Briefe der Werktätigen» auf den Schreibtisch des Präsidenten. Einige Kostproben: «Herr Generalsekretär, ich gratuliere Ihnen zum Preis der Imperialisten dafür, dass Sie die UdSSR zerstört und Osteuropa verkauft haben, die Rote Armee zerschlagen haben, alle Ressourcen den Vereinigten Staaten und die Medien den Zionisten überlassen haben.» Eine andere Botschaft: «Herr Nobelpreisträger, wir gratulieren Ihnen dazu, dass Sie das Land auseinandergetrieben haben. Sie haben den Preis des Weltimperialismus und Zionismus verdient für den Verrat an Lenin und am Oktober.»
Ebenfalls auf Gorbatschows Schreibtisch landete ein KGB-Bericht, dem zufolge 90 Prozent der Sowjetbürger die Verleihung des Nobelpreises an ihn verurteilten. Der Berater Tschernjajew hakte bei seinem Chef nach, warum sein führender Geheimpolizist wohl diese Informationen sammle und ihm regelmäßig auftische. Gorbatschow stellte mit traurigem Kopfschütteln die Gegenfrage: «Meinst du, dass ich mir darüber keine Gedanken mache?»
D AS E LEND DER EINSAMEN S UPERMACHT
«Was wird aus der Versorgung der Bevölkerung? Wo sind die Waren des täglichen Bedarfs? Die Lage wird mit jedem Tag schlechter. Wir bitten zu erklären, warum die Rationierung des Zuckerverkaufs von 2 Kilogramm auf 1,5 Kilogramm pro Kopf gesunken ist», schreiben die Werktätigen aus dem südrussischen Pawlowsk im Herbst 1989 in einem Brief an das Zentralkomitee. «In unserer Stadt sind Haushalts- und Toiletteseifen sowie Waschpulver aus den Regalen verschwunden. Als Zucker zur Mangelware wurde und rationiert werden musste, hatten wir Verständnis für diese Entscheidung. Aber jetzt, wo die lokalen Behörden eine derart miserable Norm für Seife und Waschpulver festgelegt haben, sind wir äußerst empört», schreiben die Einwohner der ukrainischen Stadt Alexandrowsk. Aus der 70.000 Einwohner zählenden Stadt Apatiti auf der Halbinsel Kola beschwert sich eine junge Mutter: «Ich habe nichts, womit ich den fünf Monate alten Jegorka ernähren könnte. Es gibt in der Stadt weder Kindersäfte noch Fruchtmus oder irgendwelche Breie für Kleinkinder.» Nicht alle reagierten so moderat, geradezu verständnisvoll. In den Tagen, als Erich Honecker die gesamte Stasi, Volkspolizei und zusätzlich 360.000 brav Spalier stehende «gesellschaftliche Kräfte» einsetzen ließ, damit die4000 Ehrengäste zum 40. Jubiläum seines Staates, unter ihnen Gorbatschow, nichts von den inneren Unruhen des Landes bemerkten, tobte in der UdSSR die bisher heftigste Streikwelle ihrer Geschichte, und das ausgerechnet unter den Bergleuten von Donezk.
Bergarbeiter und ihre Familien demonstrieren gegen schlechte Bezahlung und Versorgung, 1988
Die Arbeitsniederlegung der 500.000 Bergarbeiter, die einst zur bestbezahlten sowjetischen Arbeiteraristokratie gehörten, hatte kaum etwas mit dem Inhalt der Lohntüten zu tun. Ausschlaggebend war vielmehr das menschenunwürdige Angebot an Konsumgütern, wobei Konsum hier als ein elementarer Prozess verstanden werden muss, der Arbeitskräften überhaupt die Chance gibt, sich physisch und psychisch zu reproduzieren. Symbolträchtig war unter anderem die Forderung der Bergleute nach Seife, ihr Anspruch auf körperliche Sauberkeit. Das politische Element dieser Bewegung kam darin zum Ausdruck, dass die Kumpel die Erfüllung ihrer Bedingungen nicht mehr von den lokalen Behörden erwarteten, sondern eine direkte Begegnung mit Gorbatschow anstrebten
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