Lebt wohl, Genossen!
(«bez opredeljonnowo mestoschitelstwa», verkürzt «Bomsch») bezeichnet wurden. Zur gleichen Zeit gab es erstmalig sichtbare Straßenprostitution, während zuvor dieses Gewerbe ein verheimlichtes Randphänomen war, das sich in Hinterzimmern abspielte. Die Kriminalität steigerte sich von Tag zu Tag, und die Bürger bangten um ihre Sicherheit – Sicherheitsschlösser aller Art erfreuten sich besonderer Nachfrage.
Je schlechter es um das Brot stand, desto mehr kümmerte man sich um die Zirkusspiele. Auf dem Bildschirm des sowjetischen Fernsehens erschien als nächste Serie die mexikanische Seifenoper «Los ricos también lloran» (Auch die Reichen weinen), in deren halbstündigen Sendungen reichlich Tränen vergossen wurden. In der Eile verzichtete man vermutlich aus Kostengründen auf die Synchronisation, der russische Text wurde simultan gesendet.
Die neu entstandene Öffentlichkeit war mit einer katastrophalen Situation konfrontiert. Die ökonomischen Schwierigkeiten des Landes –äußere und innere Verschuldung, leere Läden, rasante Entwertung desGeldes – schufen neben der soeben spürbaren Aufbruchstimmung auch wachsende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Charakteristisch für diese heikle Zeitspanne war das Erscheinen der sogenannten Ekstrassens in den großen Medien – Magier, Seher und allerlei Wunderheiler. So kurierte der Hypnotiseur Kaschpirowskij in Livesendungen des Programms «Telemost» im Moskauer Fernsehen über den Bildschirm Kranke – jedenfalls demonstrierte er diese Tätigkeit unter anderem an einem aus Afghanistan zurückgekehrten kranken General. Der scharfzüngige Volksmund kreierte daraufhin den Vorschlag, der berühmt-berüchtigte Hypnotiseur könne doch das Problem der Lebensmittelversorgung lösen, indem er den Konsumenten die Mangelwaren einfach suggeriere. Eine andere Wunderheilerin, die bereits zu Breschnews Zeiten bekannt gewordene Dschuna Dawitaschwili, die zunehmend durch «kontaktlose Massage» Furore machte, entpuppte sich auch als Wahrsagerin. Nicht zuletzt sah sie das Ende der UdSSR kommen, wozu allerdings im Jahre 1989 nicht mehr allzu viel prophetische Begabung gehörte.
Michail Chodorkowskij: Offen, energisch, optimistisch – der Geschäftsmann aus dem Komsomol
D IE N EUREICHEN
Nicht alle wurden bitterarm, nicht alle waren verängstigt und deplatziert in den neuen Zeiten. Die zweite Hälfte der Achtzigerjahre war von einer rasanten Privatisierung geprägt, zu deren Kennzeichen es gehörte, dass politische Macht relativ leicht in Reichtum verwandelt werden konnte. Im Sommer 1988 erarbeitete die ZK-Führung ein Gesetz «über die Ausweitung der Außenhandelstätigkeit der Jugendorganisation Komsomol» sowie «über die Förderung ökonomischer Tätigkeit». Beide Gesetze wurden von dem damals noch stromlinienförmigen Obersten Sowjet ohne Gegenstimmen angenommen. Tatkräftige junge Menschen begannen mit der Aneignung des staatlichen Vermögens, zunächst durch die Gründung von Kooperativen, später durch Ankauf von maroden staatlichen Unternehmen. Sie gehörten meist zur technischen Elite, so der Ingenieur Boris Abramow, der Ökonom Alexander Beresowskij und der ganz junge Funktionär Michail Chodorkowskij, der in Moskau eine Arbeitsgruppe für technische Innovation leitete. In ihrer Tätigkeit mischte sich eine neue Kreativität mit der Hemmungslosigkeit einer Klasse in statu nascendi. Als dann die 20 Millionen Mitglieder starke Jugendorganisation Komsomol auf ihrem Kongress im September 1991 ihre Selbstauflösung verkündete, mehrte ihr Vermögen den Krösusschatz der neuen Oligarchien und Neureichen, der «nuworischi». Im Schatten des zerfallenden Staatsgebäudes entstanden private Firmen, nicht zuletzt Banken. Am 1. Januar 1989 gab es in der UdSSR 43 solche Geldinstitute, zwei Jahre später waren es bereits 1357. Die meisten von ihnen entbehrten das notwendige Fachpersonal, waren keiner zentralen Bankaufsicht unterstellt und blieben vorerst auch steuerrechtlich unerfasst. Ihre Leistung bestand darin, die Bargeldressourcen der Bevölkerung der staatlichen Kontrolle zu entziehen.
G ORBATSCHOW ALS B ITTSTELLER
Angesichts dieser bitteren Situation erschien der Staatschef Gorbatschow in der Rolle des Bittstellers gleichsam tragisch und grotesk. Sein enger Mitarbeiter Anatolij Tschernjajew schrieb im Spätherbst 1990 in sein Tagebuch: «Gestern habe ich mich hingesetzt, um Gorbatschows Brief anKohl zu schreiben. Am Telefon hat er nicht damit begonnen, seine
Weitere Kostenlose Bücher