Lee, Julianne
Glasgow nach Ciorram zu bringen.
Fort William war das mit Abstand hässlichste, gottverlassenste Fleckchen Erde, das Leah Hadley je zu Gesicht bekommen hatte. Trotzdem verließ sie es nur ungern, denn sie wusste, dass ihr noch viel Schlimmeres bevorstand. Ihre Kutsche ruckelte und schaukelte über eine Straße, die immer tiefer in eine von hohen, steilen Bergen umgebene, bedrohlich wirkende Wildnis hineinführte. Braune Berge noch dazu! Sie sehnte sich verzweifelt nach der satt-
grünen, sanft gewellten Landschaft Englands, und fast noch mehr sehnte sie sich nach der Gesellschaft ihrer wohlerzogenen, höflichen englischen Freunde. Dieses Land war von jeglicher Zivilisation so weit entfernt wie nur möglich. Obgleich es angeblich zum britischen Reich gehörte, erschien ihr Schottland wie der ausschließlich aus nacktem Stein erbaute, mit seltsamen barfüßigen Kreaturen bevölkerte Vorhof der Hölle.
Ihr Vater ritt mit seinen Dragonern hinter ihrer Kutsche her. Wie üblich schenkte er ihr keinerlei Beachtung. Captain Roger Hadley hatte mit der Verlegung seiner Truppen zu viel zu tun, als dass er sich noch dazu um seine einzige Tochter hätte kümmern können. Allerdings hatte ihr Wohlergehen für ihn noch nie an oberster Stelle gestanden. Sie hörte, wie er seine Leute hierhin und dorthin beorderte, nur an sie verschwendete er keinen Gedanken. Ein überwältigendes Gefühl der Verlassenheit schnürte ihr die Kehle zu. Sie lehnte den Kopf gegen den Rahmen des in die Kutschwand eingelassenen Fensters und starrte blicklos in die grässliche Landschaft hinaus.
Wenn doch ihre Mutter nur hier wäre! Mutter hatte es immer verstanden, auch den unangenehmsten Dingen eine gute Seite abzugewinnen und Leah aus ihren trüben Stimmungen herauszureißen. Mutter hatte ihre kleine Familie zusammengehalten. Warum, warum nur hatte Gott sie so früh zu sich geholt!
Doch hier, mitten auf dieser direkt ins Niemandsland führenden Straße, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdiente, auf der ihr nur die plumpe — und barfüßige - schottische Zofe Gesellschaft leistete, die sie in Glasgow angeheuert hatten, vermisste Leah plötzlich ihren Vater ebenso sehr wie die Mutter. Sie hätte genauso gut eine Waise sein können. Eine unsichtbare Waise, um genau zu sein, denn sie war von Vaters groben, ungehobelten Soldaten umringt, die sich ungeniert in der Leistengegend kratzten, in der Nase bohrten und den beißenden Gestank der Huren verströmten, die letzte Woche das Lager besucht hatten. Keiner dieser ungebildeten, unzivilisierten rotberockten Männer
würde es wagen, die unverheiratete einzige Tochter ihres Captains auch nur anzusprechen. Auch die Leutnants, die sie unter anderen Umstanden vielleicht recht interessant gefunden hätte, fürchteten den Zorn ihres Vaters zu sehr, um mehr als die notwendigsten Worte mit ihr zu wechseln. Wie dieses Glen Ciorram auch immer beschaffen sein mochte, Leah war jetzt schon sicher, dass sie sich dort zu Tode langweilen und vor Einsamkeit vergehen würde.
In der staubigen, schmutzigen Kutsche kämpfte sie verzweifelt gegen die Übelkeit an, die ihr die ewige Schaukelei über die unebene Straße bescherte. Schließlich schloss sie die Augen und ergab sich in ihr Schicksal.
Das laute Hufgetrommel, das plötzlich hinter ihr ertönte, riss sie aus ihrer Apathie. Der hinter der Kutsche reitende Leutnant stieß einen Warnruf aus. Leah spähte aus dem Fenster, um zu sehen, was da los war. Ein tief über den Hals seines Pferdes geduckter Reiter jagte in vollem Galopp an ihnen vorbei. Leah blickte ihm nach und stellte fest, dass es sich um einen halbwüchsigen Jungen handelte. Einer der Soldaten hatte bereits die Verfolgung aufgenommen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde dem Jungen die Flucht gelingen, doch dann holte der Dragoner ihn ein, packte die Zügel seines Pferdes und brachte es direkt vor der Kutsche zum Stehen.
Diese rumpelte langsam weiter, und im Vorbeifahren musterte Leah den Jungen neugierig. Er schien vor Zorn über die unfreiwillige Pause geradezu zu kochen, während er die Fragen des Dragoners beantwortete. Seine Worte überschlugen sich beinahe, und die Verzweiflung, die in seiner Stimme mitschwang, strafte die stolze Würde Lügen, die er an den Tag zu legen versuchte. Er wusste sicher, dass er in großen Schwierigkeiten steckte. Hier im Norden wurde mit aller Härte gegen Jakobiten vorgegangen. Ohne Erlaubnis der Armee durfte sich praktisch niemand ungehindert
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