Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
nächsten Teil unseres Plans«, hat sie gesagt.
Es klopft an der Tür.
»Day?«, dringt es gedämpft durch das Holz.
Es dauert eine Sekunde, bis ich in die Wirklichkeit zurückfinde und Tess’ Stimme erkenne. Ich bin direkt aus einem Albtraum über meinen achten Geburtstag aufgewacht. Ich sehe noch immer alles so lebhaft vor mir, als wäre es gestern gewesen, und meine Augen fühlen sich vom Weinen rot und geschwollen an. Beim Aufwachen hat mein Bewusstsein Bilder von Eden heraufbeschworen, schreiend und an eine Bahre gefesselt, während Laborarbeiter ihm irgendwelche Chemikalien injizieren, und von John, der einem Erschießungskommando gegenübersteht. Und von Mom. Ich kann einfach nicht verhindern, dass sich dieser ganze verdammte Kram wieder und wieder in meinem Kopf abspielt, und das macht mich wahnsinnig. Selbst wenn ich Eden finde, was dann? Wie zum Teufel soll ich ihn aus der Republik herausschleusen? Ich muss mich darauf verlassen, dass Razor mir hilft, ihn zurückzuholen. Und dafür muss ich absolut sicherstellen, dass Anden stirbt.
Meine Arme schmerzen, nachdem ich einen Großteil des Morgens damit verbracht habe, mir von Kaede und Pascao den Umgang mit einem Gewehr beibringen zu lassen. »Wenn du den Elektor verfehlst, kein Problem«, hat Pascao gesagt, als wir gerade an meinem Zielvermögen arbeiteten. Dann fuhr er mit der Hand meinen Arm entlang, bis ich errötete. »Ist nicht wichtig. Dann sind andere zur Stelle, die den Rest für dich erledigen. Razor geht es nur um ein Bild von dir, wie du eine Waffe auf den Elektor richtest. Ist das nicht perfekt? Der Elektor, der an die Front gereist ist, um die Soldaten zu motivieren, wird niedergeschossen – und das umringt von Hunderten von Soldaten. Welche Ironie!« Pascao schenkt mir sein charakteristisches strahlendes Lächeln. »Der Volksheld tötet den Tyrannen. Fast wie im Märchen, was?«
Ja, ein Märchen, genau.
»Day?«, fragt Tess von der anderen Seite der Tür. »Bist du da drin? Razor möchte dich sprechen.« Ach ja. Sie ist ja immer noch da draußen und ruft nach mir.
»Ja, komm ruhig rein«, rufe ich.
Tess steckt ihren Kopf ins Zimmer. »Hey! Wie lange bist du schon hier drin?«
»Bleib bei ihr – ihr zwei passt super zusammen«, hat Kaede mir geraten. »Keine Ahnung«, erwidere ich. »Hab mich ein bisschen ausgeruht. Vielleicht ein paar Stunden?«
»Razor will dich in der Zentrale sprechen. Es gibt die ersten Live-Bilder von June. Ich dachte, du würdest vielleicht –«
Live-Bilder? Dann muss sie es geschafft haben. Es geht ihr gut. Ich springe vom Bett. Endlich Neuigkeiten von June – bei dem Gedanken, sie wiederzusehen, und sei es nur auf den verschwommenen Bildern einer Sicherheitskamera, wird mir beinahe schwindelig vor Freude. »Ich komme sofort.«
Als wir uns auf den Weg durch den kurzen Flur zur Zentrale machen, grüßen ein paar andere Patrioten Tess. Sie lächelt jedes Mal und sie scherzen und lachen miteinander, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Zwei Jungen klopfen ihr sogar freundschaftlich auf die Schulter.
»Wie wär’s, wenn ihr mal einen Zahn zulegt, Leute? Razor sollte man besser nicht warten lassen.« Wir drehen uns um und sehen Kaede im Laufschritt auf die Zentrale zueilen. Neben Tess bleibt sie kurz stehen, legt ihr den Arm um die Schultern und zerzaust ihr liebevoll das Haar, während sie ihr einen ausgelassenen Kuss auf die Wange drückt. »Und du, meine Süße, bist die Langsamste von allen, das schwöre ich.«
Tess lacht und schiebt sie weg. Kaede zwinkert ihr zu, bevor sie weiterläuft und um die Ecke in die Zentrale verschwindet. Ich starre ihr nach, ein bisschen überrascht über diese Zuneigungsbekundung. Das hätte ich nicht von ihr erwartet. Ich habe bisher nie darüber nachgedacht, jetzt aber wird mir klar, wie gut Tess darin ist, soziale Bande zu knüpfen – ich kann regelrecht spüren, wie sehr die Patrioten ihre Gegenwart genießen, genauso wie ich es während unserer gemeinsamen Zeit auf der Straße getan habe. Das ist definitiv ihre Stärke. Sie hat heilende Kräfte. Sie spendet Trost.
Dann kommt Baxter an uns vorbei. Tess blickt zu Boden, als er ihren Arm streift, und ich sehe, wie er ihr kurz zunickt, bevor er mich finster anstarrt. Als er außer Hörweite ist, beuge ich mich zu Tess hinüber.
»Was hat der eigentlich für ein Problem?«, flüstere ich.
Sie zuckt bloß mit den Schultern und streicht mir über den Arm. »Kümmere dich nicht um ihn«, erwidert sie und
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