Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
nie auch nur in Erwägung gezogen.
Die Stimmen der anderen verschwimmen zu einem unbestimmten Gemurmel, als ich aufhöre, ihnen zuzuhören. Tess hat natürlich recht; ich kann das Verlangen in den Augen des Elektors ja selbst sehen. Jetzt steht er auf und geht zu June hinüber, die an ihren Stuhl gekettet ist. Beim Sprechen lehnt er sich dicht zu ihr herüber. Ich zucke zusammen. Wie sollte irgendjemand June widerstehen können? Sie ist einfach auf zu viele Arten vollkommen. Dann wird mir klar, dass es nicht Andens plötzlich für sie entflammte Leidenschaft ist, die mich so aufwühlt – wenn alles nach Plan läuft, hat er sowieso nicht mehr lange zu leben. Was mich wirklich wurmt, ist, dass Junes Lachen auf dem Video echt wirkt. Man könnte fast meinen, dass sie sich amüsiert. Mit Männern wie ihm ist sie natürlich genau auf einer Wellenlänge: Aristokraten. Von Natur aus für ein Leben in der Oberschicht der Republik vorgesehen. Wie könnte sie da jemals mit einem wie mir glücklich werden, einem Typen, der nichts besitzt außer einer Handvoll Büroklammern in seiner Hosentasche? Ich wende mich ab und entferne mich von der Gruppe. Ich habe genug gesehen.
»Warte!«
Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, wie Tess mit wehenden Haaren hinter mir hereilt. Bei mir angekommen, passt sie sich meinem Tempo an. »Alles in Ordnung?«, fragt sie und blickt mir prüfend ins Gesicht, als wir durch den Flur zurück in Richtung meines Zimmers gehen.
»Klar«, antworte ich. »Warum auch nicht? Läuft doch alles … perfekt.« Ich ringe mir ein Lächeln ab.
»Okay. Ich weiß. Ich wollte bloß fragen.« Tess zeigt mir ihr Grübchenlächeln und ich werde auf der Stelle weich.
»Mir geht’s gut, Cousine. Im Ernst. Du bist in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, der Plan der Patrioten funktioniert und sie wollen mir helfen, Eden zu finden. Mehr kann man doch gar nicht verlangen.«
Tess’ Gesicht hellt sich auf und ihr Mund verzieht sich zu einem verschmitzten Grinsen. »Es gibt Gerüchte über dich, weißt du das?«
Ich hebe in gespieltem Erschrecken die Augenbrauen. »Ach, wirklich? Was denn für Gerüchte?«
»Dass du am Leben bist und es dir gut geht – die Leute reden kaum noch von was anderem und die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Dein Name ist in der ganzen Republik an Wände gesprüht, manchmal sogar quer über die Elektor-Porträts. Kannst du dir das vorstellen? Überall bilden sich kleine Protestgruppen und alle rufen deinen Namen.« Tess’ Begeisterung schwindet ein wenig. »Sogar in den Quarantänevierteln von Los Angeles. Ich glaube, mittlerweile steht die ganze Stadt unter Quarantäne.«
»Sie haben ganz Los Angeles abgeriegelt?« Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Dass mittlerweile sogar die Edelsteinsektoren betroffen sind, wusste ich, aber von so einer groß angelegten Quarantäne habe ich noch nie gehört. »Wieso das denn? Wegen der Seuchen?«
»Nein, nicht deswegen.« Tess’ Augen weiten sich vor Aufregung. »Wegen der Aufstände. Offiziell deklarieren sie es als Seuchenquarantäne, aber in Wahrheit lehnt sich die ganze Stadt gegen den neuen Elektor auf. Es heißt, dass der Elektor dich um jeden Preis schnappen will, und ein paar Patrioten haben das Gerücht in Umlauf gebracht, dass er es war, der den Befehl gegeben hat … äh … der den Befehl gegeben hat, deine Familie …« Tess gerät ins Stocken und läuft tiefrot an. »Na ja, jedenfalls geben die Patrioten alles, um Anden schlecht dastehen zu lassen, noch schlimmer als seinen Vater. Razor sagt, dass die Proteste in L. A. eine großartige Chance für uns sind. Die Hauptstadt musste Unmengen von zusätzlichen Truppen losschicken.«
»Eine großartige Chance«, wiederhole ich und muss daran denken, auf welche Art die Republik den letzten Aufstand in Los Angeles beendet hat.
»Genau, und die haben wir nur dir zu verdanken, Day – oder zumindest dem Gerücht, dass du am Leben bist. Deine Flucht hat die Menschen inspiriert und sie sind stinksauer darüber, wie du behandelt wirst. Du bist das Einzige, worüber die Republik keine Kontrolle zu haben scheint. Das ganze Land blickt auf dich, Day. Alles wartet auf deinen nächsten Zug.«
Ich schlucke, wage es kaum zu glauben. Das kann unmöglich wahr sein – die Republik würde niemals einen Aufstand in einer der größten Städte des Landes dermaßen ausufern lassen. Oder doch? Können die Menschen dort dem Militär wirklich standhalten? Alles wartet auf deinen nächsten
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