Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
sein, nun aber weiß ich, dass die Patrioten jeden meiner Schritte kontrollieren. Razors Soldaten rücken langsam auf den Plan und bringen sich in Position. Gut möglich, dass ich die Soldatin nie wiedersehen werde – von nun an aber präge ich mir die Gesichter der Soldaten um mich herum genau ein und frage mich, wer von ihnen loyal ist und wer ein Patriot.
DAY
Wieder ein Traum.
Am Morgen meines achten Geburtstags bin ich viel zu früh wach. Das erste Licht fällt fahl zu den Fenstern herein und vertreibt das Dunkelblau und Grau der schwindenden Nacht. Ich setze mich im Bett auf und reibe mir die Augen. Ein halb leeres Glas Wasser steht gefährlich nah an der Kante des alten Nachtschränkchens. In der Ecke des Zimmers kauert unsere einsame Topfpflanze – irgendein Efeugewächs, das Eden von einer Müllkippe angeschleppt hat – und streckt ihre Ranken auf der Suche nach Sonne über den Boden aus. John schnarcht laut. Seine Füße ragen unter einer Flickendecke hervor. Eden ist nirgends zu sehen; wahrscheinlich ist er bei Mom.
Wenn ich zu früh aufwache, bleibe ich normalerweise einfach liegen und denke an etwas Beruhigendes, einen Vogel oder einen See, bis ich irgendwann entspannt genug bin, um wieder einzuschlafen. Aber heute hilft es nicht. Ich schwinge meine Beine über die Bettkante und ziehe Socken an; links und rechts passen nicht zueinander.
In dem Moment, als ich das Wohnzimmer betrete, weiß ich, das irgendetwas nicht stimmt. Mom schläft mit Eden im Arm auf der Couch, die Decke bis über die Schultern hochgezogen. Aber Dad ist nicht da. Mein Blick huscht durch den Raum. Erst am Abend zuvor ist er von der Front zurückgekommen und bleibt dann normalerweise mindestens drei oder vier Tage zu Hause. Er kann nicht schon wieder weg sein, dafür ist es zu früh.
»Dad?«, flüstere ich. Mom bewegt sich im Schlaf und ich bin wieder still.
Dann höre ich das leise Knarzen unserer Fliegengittertür. Meine Augen weiten sich. Ich schleiche zur Tür und strecke den Kopf nach draußen. Kalte Luft empfängt mich. »Dad?«, flüstere ich noch einmal.
Zuerst sehe ich niemanden. Dann aber löst sich seine Silhouette aus den Schatten. Dad .
Ich laufe los, kümmere mich nicht um den Matsch und das raue Steinpflaster, das durch meine fadenscheinigen Socken scheuert. Die Gestalt im Dunkeln macht noch ein paar Schritte, bis sie mich hört und sich zu mir umdreht. Jetzt erkenne ich das hellbraune Haar meines Vaters und seine schmalen honigfarbenen Augen, den leichten Bartschatten an seinem Kinn, seinen kräftigen Körperbau und seine ungezwungene Eleganz. Mom hat immer gesagt, er sähe aus, als wäre er geradewegs einem mongolischen Märchenbuch entstiegen. Ich renne schneller.
»Dad«, keuche ich, als ich ihn erreiche. Er hockt sich hin und zieht mich in seine Arme. »Gehst du schon wieder?«
»Es tut mir leid, Daniel«, flüstert er. Er klingt müde. »Ich bin zurück an die Front gerufen worden.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen. »Jetzt schon?«
»Geh bitte sofort zurück ins Haus. Du darfst auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Straßenpolizei erregen.«
»Aber du bist doch gerade erst angekommen«, versuche ich zu argumentieren. »Du … Heute ist doch mein Geburtstag und –«
Mein Vater legt mir die Hände auf die Schultern. Seine Augen blicken warnend und ich kann darin lesen, was er so gern laut zu mir gesagt hätte. Ich will ja bleiben , versucht er mir klarzumachen. Aber ich muss gehen. Du weißt doch, wie es ist. Wir dürfen nicht darüber reden. Stattdessen sagt er: »Geh zurück nach Hause, Daniel. Gib deiner Mutter einen Kuss von mir.«
Meine Stimme beginnt zu zittern, aber ich ermahne mich, tapfer zu sein. »Wann kommst du zurück?«
»Bald. Ich hab dich lieb.« Er legt mir die Hand auf den Kopf. »Halte einfach die Augen nach mir offen, ja?«
Ich nicke.
Er bleibt noch einen Moment bei mir stehen, dann richtet er sich auf und macht sich wieder auf den Weg. Ich gehe nach Hause.
Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Ein Tag ist vergangen. Ich sitze allein auf dem Patriotenbett, das sie mir in einem der Schlafräume zugewiesen haben, und betrachte den Anhänger, der an einer Schnur um meinen Hals hängt. Meine Haare fallen mir ins Gesicht, sodass ich das Gefühl habe, ihn durch einen hellen Schleier zu betrachten. Kurz zuvor, als ich duschen gegangen bin, hat Kaede mir eine Flasche Waschgel in die Hand gedrückt, das die Farbe aus meinen Haaren entfernen sollte. »Für den
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