Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Zug. Aber wie der aussehen soll, weiß der Teufel. Und dabei will ich doch nur meinen Bruder finden, mehr nicht, das ist alles. Ich schüttele den Kopf und kämpfe einen plötzlichen Anflug von Panik nieder. Genau so eine Möglichkeit habe ich mir doch immer gewünscht. Eine Möglichkeit, zurückzuschlagen. Das war doch schließlich seit Jahren mein festes Ziel, oder etwa nicht? Und jetzt übergeben sie mir die Macht und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. »Ja, klar …«, bringe ich schließlich heraus. »Soll das ein Witz sein? Ich bin doch nur ein Straßenjunge aus L. A.«
»Ja. Und zwar ein ziemlich berühmter.« Als ich Tess’ ansteckendes Lächeln sehe, hebt sich sofort meine Stimmung. Sie knufft mich liebevoll in den Arm, als wir meine Zimmertür erreichen. Wir gehen hinein. »Komm schon, Day. Hast du etwa vergessen, weshalb die Patrioten sich überhaupt bereit erklärt haben, dich aufzunehmen? Razor sagt, du könntest so viel Macht erlangen wie der neue Elektor. Jeder im Land kennt deinen Namen. Und die meisten Leute mögen dich sogar. Das ist etwas, worauf du stolz sein kannst, klar?«
Ich gehe zu meinem Bett und hocke mich auf die Kante. Zuerst bekomme ich gar nicht mit, dass Tess sich neben mich setzt.
Als ich weiter schweige, flaut ihre Begeisterung etwas ab. »Sie bedeutet dir wirklich viel, oder?«, fragt sie schließlich und streicht mit einer Hand die Bettdecke glatt. »Nicht wie die anderen Mädchen aus Lake, mit denen du was hattest.«
»Was?«, entgegne ich, einen Moment lang verwirrt. Tess scheint zu denken, dass ich noch immer über Andens Schwärmerei für June nachgrüble.
Tess’ Wangen verfärben sich rosa und plötzlich wird mir unangenehm warm, weil ich allein mit ihr hier sitze, ihre großen Augen auf mir, und nicht zu übersehen ist, dass sie in mich verliebt ist. Ich war immer ziemlich lässig im Umgang mit Mädchen, die mich mochten, aber das waren auch Fremde. Mädchen, die in meinem Leben auftauchten und wieder verschwanden, ohne dass es irgendwelche Folgen hatte. Bei Tess ist das anders. Ich weiß nicht, was ich von der Vorstellung halten soll, dass wir mehr als nur Freunde sein könnten.
»Tja, was willst du denn von mir hören?«, frage ich. Kaum dass die Worte aus meinen Mund sind, würde ich mir am liebsten eine reinhauen.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen – ich bin sicher, ihr geht es blendend .« Das letzte Wort speit sie mir regelrecht entgegen und sagt dann nichts mehr. Okay, die Bemerkung hätte ich mir wohl definitiv sparen sollen.
»Ich habe mich den Patrioten nicht angeschlossen, weil ich mir nichts Schöneres vorstellen konnte, weißt du?« Tess steht vom Bett auf und baut sich vor mir auf, den Rücken durchgestreckt, ihre geballten Fäuste öffnen und schließen sich. »Ich habe mich ihnen deinetwegen angeschlossen. Weil ich fast krank war vor Sorge um dich, nachdem June dich verhaftet hatte. Ich wollte die Patrioten bitten, dich zu retten – aber was Überzeugungskraft angeht, kann ich es wohl nicht mit June aufnehmen. June könnte dir antun, was sie will, du würdest ihr einfach alles verzeihen. June könnte sogar der Republik antun, was sie will, und selbst die verzeihen ihr.« Tess’ Stimme wird lauter. »Wenn June irgendwas braucht, springen gleich alle, aber meine Bedürfnisse sind jedem egal. Vielleicht würdest du dich ja mehr für mich interessieren, wenn ich das Lieblingskind der Republik wäre.«
Ihre Worte treffen mich hart. »Das ist nicht wahr«, protestiere ich. Ich stehe auf und greife nach ihren Händen. »Wie kannst du so was nur sagen? Wir haben uns auf der Straße gemeinsam durchgeschlagen. Hast du eigentlich eine Ahnung, was mir das bedeutet?«
Sie presst ihre Lippen aufeinander und blickt zu mir hoch, fest entschlossen, nicht zu weinen. »Day, hast du dich eigentlich jemals gefragt, warum du June so magst? Ich meine, na ja, sie hat dich schließlich verhaftet und so …«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
Sie holt tief Luft. »Ich hab mal einen Bericht gesehen, auf einem JumboTron oder so, der von Gefangenen in den Kolonien handelte. Und da haben sie gesagt, dass Entführungsopfer sich manchmal in ihre Kidnapper verlieben.«
Ich runzele die Stirn. Es ist, als wäre die Tess, die ich kenne, von einer Wolke aus Misstrauen und finsteren Gedanken verschluckt worden. »Du denkst, ich mag June nur, weil sie mich verhaftet hat? Hältst du mich wirklich für so krank im Kopf?«
»Day«, sagt Tess
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