Legend - Fallender Himmel
»Wofür brauchst du so viel Geld?«
Der Junge lacht. »Ist das eine ernst gemeinte Frage? Wollen wir nicht alle mehr Geld? Kann man davon jemals genug haben?«
»Macht es dir eigentlich Spaß, auf jede meiner Fragen mit einer Gegenfrage zu antworten?«
Wieder lacht er. Doch dann nimmt seine Stimme einen traurigen Unterton an. »Geld ist das Wichtigste auf der ganzen Welt. Geld macht glücklich, egal, was andere sagen. Geld bedeutet Erleichterung, Status, Freunde, Sicherheit ... alles Mögliche.« Ich sehe, wie seine Augen einen versonnenen Ausdruck annehmen.
»Es wirkt nur so, als hättest du es ziemlich eilig, welches anzuhäufen.«
Er wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Warum auch nicht? Du lebst doch bestimmt schon genauso lange auf der Straße wie ich. Du solltest den Grund dafür kennen.«
Ich sehe zu Boden. Ich will nicht, dass er die Wahrheit in meinen Augen liest. »Ja, vielleicht.«
Eine Weile sitzen wir schweigend da.
Dann ergreift der Junge plötzlich wieder das Wort. Seine Stimme klingt so sanft, dass ich nicht anders kann, als ihn anzusehen. »Ich weiß nicht, ob dir das schon mal jemand gesagt hat«, beginnt er. Er wird nicht rot und sein Blick lässt meinen keine Sekunde los. Ich habe das Gefühl, in zwei Ozeane zu starren - der eine perfekt, die Oberfläche des anderen getrübt durch ein winziges Kräuseln. »Du siehst ziemlich gut aus.«
Ich habe schon früher Komplimente für mein Aussehen bekommen. Aber nie mit einer solchen Eindringlichkeit. Warum mich, von all den Dingen, die er bisher gesagt hat, ausgerechnet das derart aus der Fassung bringt, weiß ich nicht. Doch ich bin so perplex, dass ich, ohne nachzudenken, herausplatze: »Dasselbe könnte ich auch über dich sagen.« Ich zögere. »Für den Fall, dass du das noch nicht weißt.«
Ganz langsam breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Oh, keine Sorge. Das weiß ich.«
Ich lache. »Schön, dich mal die Wahrheit sagen zu hören.« Ich kann mich nicht von seinen Augen losreißen. Schließlich gelingt es mir hinzuzufügen: »Ich würde sagen, du hast ein bisschen viel Wein getrunken, mein Lieber.« Ich lasse meine Stimme so locker klingen, wie ich kann. »Vielleicht solltest du eine Runde schlafen.«
Die Worte sind kaum über meine Lippen, als der Junge sich zu mir herüberlehnt und mir die Hand auf die Wange legt. Mein jahrelanges Training müsste in mir eigentlich den Reflex auslösen, sie sofort wegzuschlagen und auf dem Boden zu fixieren. Stattdessen aber tue ich nichts, sondern bleibe reglos sitzen. Er zieht mich zu sich. Ich hole Luft, bevor sein Mund sich auf meinen legt.
Ich schmecke den Wein, den er getrunken hat. Zuerst ist sein Kuss ganz sanft, dann aber, als wollte er plötzlich mehr, drückt er mich gegen die Wand und küsst mich stürmischer. Seine Lippen sind warm und so weich - seine Haarspitzen streifen mein Gesicht. Ich versuche, klar zu denken. (Das hier ist nicht sein erstes Mal. Er hat definitiv schon andere Mädchen geküsst und bestimmt nicht wenige. Er ist ... Er wirkt etwas kurzatmig ...) Die Fakten rauschen an mir vorbei. Vergeblich versuche ich, mich daran festzuklammern. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich seinen Kuss genauso hungrig erwidere. Das Messer an seiner Taille berührt meine Haut und ich erschaudere. Es ist zu warm hier, mein Gesicht fühlt sich zu heiß an.
Als er sich von mir löst, starren wir einander verwirrt und schweigend an, so als könnte keiner von uns so recht begreifen, was gerade passiert ist.
Dann gewinnt er die Fassung wieder, und während ich noch um meine ringe, lehnt er sich neben mir an die Wand und seufzt. »Entschuldige.« Er wirft mir einen verschmitzten Blick zu. »Ich konnte nicht anders. Aber wenigstens haben wir es jetzt hinter uns.«
Eine Weile starre ich ihn bloß an, noch immer unfähig zu sprechen. Mein Verstand schreit mich an, endlich meine Gedanken zu ordnen. Der Junge erwidert meinen Blick und lächelt, als wüsste er, welche Wirkung er auf mich hat, und wendet sich ab. Ich fange wieder an zu atmen.
In diesem Moment beobachte ich eine Geste bei ihm, die meinen Verstand vollständig in die Wirklichkeit zurückholt: Bevor er sich zum Schlafen auf den Boden legt, greift er an seinen Hals. Die Bewegung wirkt so intuitiv, dass ich bezweifle, dass er sich ihrer überhaupt bewusst ist. Ich starre auf seinen Hals, doch dort ist nichts. Er hat nach dem Geist einer Halskette gegriffen, dem Geist einer Schnur oder eines
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