Legend - Fallender Himmel
Schmuckstücks.
Mir wird beinahe übel, als mir der Anhänger in meiner Tasche wieder einfällt. Days Anhänger.
DAY
Als das Mädchen eingeschlafen ist, lasse ich sie und Tess allein und mache mich auf den Weg, um meine Familie zu besuchen. Durch die kühlere Luft unterwegs bekomme ich wieder einen klaren Kopf. Als ich ein Stück von der Gasse entfernt bin, atme ich tief durch und bleibe stehen. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte sie nicht küssen sollen. Und ganz besonders sollte ich darüber nicht so glücklich sein. Aber das bin ich. Ich kann noch immer ihre Lippen auf meinen spüren, die glatte, weiche Haut ihres Gesichts und ihrer Arme, das leichte Zittern ihrer Hände. Ich habe schon viele hübsche Mädchen geküsst, aber so ist es noch nie gewesen. Ich wollte mehr. Ich kann kaum glauben, dass ich es überhaupt geschafft habe, mich von ihr loszureißen.
So viel dazu, dass ich mich nie in jemanden von der Straße verlieben wollte.
Jetzt aber konzentriere ich mich mit aller Gewalt auf mein bevorstehendes Treffen mit John. Ich versuche, das seltsame X an der Tür meiner Familie zu ignorieren, und husche direkt zu den Brettern an der Seite der Veranda. Kerzen flackern hinter dem zerbrochenen Schlafzimmerfenster. Meine Mutter muss noch auf sein und sich um Eden kümmern. Ich kauere eine Weile in der Dunkelheit, dann werfe ich einen Blick auf die verlassene Straße hinter mir, schiebe das lose Brett zur Seite und gehe auf die Knie.
In den Schatten auf der anderen Straßenseite bewegt sich etwas. Ich halte eine Sekunde lang inne und blinzele in die Nacht hinaus. Nichts. Als sich nichts Verdächtiges mehr regt, ziehe ich den Kopf ein und krieche unter die Veranda.
John ist in der Küche und macht Suppe oder irgendetwas in der Art warm. Ich gebe drei leise Zischlaute von mir, die sich anhören wie das Zirpen einer Grille; ich brauche ein paar Anläufe, bis John mich hört und sich endlich umdreht. Dann verlasse ich mein Versteck unter der Veranda und gehe zur Hintertür auf der Rückseite des Hauses, wo ich in der Dunkelheit meinen Bruder treffe.
»Ich habe sechzehnhundert Noten«, flüstere ich und zeige ihm die Geldbörse. »Es reicht fast für die Medikamente. Wie geht es Eden?«
John schüttelt den Kopf. Die Angst in seinem Gesicht macht mich fertig, denn irgendwie erwarte ich immer, dass er der Stärkste von uns allen ist. »Nicht gut«, antwortet er. »Er hat noch mehr abgenommen. Aber er ist immer noch komplett bei Bewusstsein und erkennt uns. Ich glaube, er hat vielleicht noch ein paar Wochen.«
Ich nicke schweigend. Über die Möglichkeit, dass wir Eden verlieren könnten, will ich nicht nachdenken. »Ich verspreche dir, dass ich das Geld bald zusammenhabe. Ich brauche nur noch einen einzigen erfolgreichen Einbruch, dann habe ich’s geschafft und wir kaufen ihm die Medizin.«
»Du bist doch vorsichtig, oder?«, fragt er. Im Dunkeln könnten wir glatt als Zwillinge durchgehen. Die gleichen Haare, die gleichen Augen. Der gleiche Gesichtsausdruck. »Ich will nicht, dass du dich unnötig in Gefahr begibst. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag es mir. Vielleicht kann ich mich irgendwann mal rausschleichen und mit dir -«
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. »Vergiss es. Wenn die Soldaten dich draußen erwischen, dann sterbt ihr alle. Das weißt du.« Als ich Johns frustriertes Gesicht sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich seine Hilfe so entschieden abgelehnt habe. »Alleine bin ich schneller. Ehrlich. Und es ist besser, wenn sich nur einer von uns da draußen rumtreibt und das Geld heranschafft. Wenn du tot bist, hilft das Mom auch nicht.«
John nickt, aber ich sehe ihm an, dass er noch mehr sagen will. Ich gebe ihm keine Gelegenheit dazu, sondern wende mich zum Gehen. »Ich muss wieder los«, verabschiede ich mich. »Wir sehen uns bald.«
JUNE
Day muss gedacht haben, dass ich schlafe. Ich sehe, wie er aufsteht und sich mitten in der Nacht davonschleicht, also folge ich ihm. Er dringt in eine Quarantänezone ein und verschwindet in einem Haus, das mit einem durchgestrichenen X markiert ist. Nach ein paar Minuten taucht er wieder auf.
Mehr muss ich nicht wissen.
Ich klettere auf das Dach eines nahe gelegenen Gebäudes. Oben angekommen, kauere ich mich in den Schatten des Schornsteins und schalte mein Mikro ein. Ich bin so wütend auf mich selbst, dass es mir nicht gelingt, das Zittern aus meiner Stimme zu vertreiben. Ich habe mir den Kopf ausgerechnet von dem Menschen
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