Legend - Fallender Himmel
Jungen weckt.
DAY
Gestern Abend hätte ich das Mädchen beinahe geküsst.
Aber es kommt nie etwas Gutes dabei raus, wenn man sich auf der Straße in jemanden verliebt. Das ist die schlimmste Schwäche, die man nur haben kann, ungefähr so schlimm, wie Familie in einem Quarantänebezirk zu haben oder ein Waisenkind, das auf einen angewiesen ist.
Und trotzdem ... ein Teil von mir will sie immer noch küssen, egal, wie hirnrissig das Ganze ist. Diesem Mädchen fallen aus einer Meile Entfernung die winzigsten Details auf. (»Die Rollläden da oben im dritten Stock müssen in irgendeinem reichen Sektor geklaut worden sein. Massives Kirschholz.«) Sie kann mit einem Messer, in einer einzigen Handbewegung, einen Hotdog an einem unbeaufsichtigten Stand aufspießen. Ihre Intelligenz spricht aus jeder einzelnen Frage, die sie mir stellt, und aus jeder Beobachtung, die sie macht. Und gleichzeitig hat sie etwas verblüffend Unschuldiges an sich, das sie von den meisten anderen Leuten, die ich kenne, unterscheidet. Sie ist nicht zynisch oder abgestumpft. Das Leben auf der Straße hat sie noch nicht zerstört. Es hat sie nur stärker gemacht.
So wie mich.
Den Morgen über suchen wir weiter nach Möglichkeiten, an Geld heranzukommen - naive Polizisten bestehlen, Sachen aus Mülltonnen weiterverkaufen, unbewachte Kisten an den Docks aufstemmen und als wir damit fertig sind, suchen wir uns ein neues Plätzchen für die Nacht.
Ich versuche, mit meinen Gedanken bei Eden zu bleiben und dem Geld, das wir auftreiben müssen, bevor es zu spät ist, aber stattdessen grübele ich schon wieder darüber nach, wie ich die Kriegsmaschinerie der Republik sabotieren kann. Ich könnte mich in ein Luftschiff einschleusen, ihm den kostbaren Treibstoff abzapfen und auf dem Markt verkaufen oder ihn irgendwelchen Menschen zukommen lassen, die ihn brauchen. Ich könnte das Luftschiff zerstören, bevor es an die Front geschickt wird. Oder das Stromnetz von Batalla ins Visier nehmen oder die Luftstützpunkte - ihnen den Strom abdrehen und sie komplett lahmlegen.
Doch dann werfe ich wieder einen Blick zu dem Mädchen oder spüre ihre Augen auf mir und schon kann ich wieder an nichts anderes denken als an sie.
JUNE
KURZ VOR 20:00 UHR
MINDESTENS 27°C
Wieder sitzen der Junge und ich zusammen in einer ruhigen Gasse, während Tess ein Stück entfernt von uns liegt und schläft. Der Junge hat ihr wieder seine Jacke gegeben. Ich sehe ihm dabei zu, wie er sich die Fingernägel feilt, indem er mit der Klinge seines Messers darüberschabt. Er hat seine Mütze abgenommen, zum ersten Mal, und mit den Fingern sein verknotetes Haar entwirrt.
Und er hat gute Laune. »Willst du einen Schluck?«, fragt er mich.
Zwischen uns steht eine Flasche Nektarwein. Es ist billiger Fusel, wahrscheinlich aus den faden Seetrauben gemacht, die im Meerwasser reifen. Aber der Junge tut so, als wäre dieser Wein der edelste Tropfen auf der ganzen Welt. Früher am Abend hat er in einem Laden in Winter eine ganze Kiste davon geklaut und alle Flaschen bis auf diese für insgesamt 650 Noten verkauft. Es erstaunt mich immer wieder, wie schnell und sicher er sich durch die verschiedenen Sektoren bewegt. In seiner Geschicklichkeit ist er mit den besten Studenten der Drake vergleichbar.
»Ich trinke was, wenn du auch was trinkst«, erwidere ich. »Wir können dein kostbares Diebesgut schließlich nicht verkommen lassen.«
Darüber muss er grinsen. Ich beobachte, wie er sein Messer in den Korken der Flasche rammt, ihn mit einem Plopp herauszieht und dann den Kopf für einen langen Schluck in den Nacken legt. Er wischt sich mit dem Daumen über den Mund und lächelt mich an. »Köstlich. Probier mal.«
Ich nehme die Flasche entgegen und trinke einen kleinen Schluck, bevor ich sie ihm zurückgebe. Ein salziger Nachgeschmack, ganz wie ich vermutet habe. Aber vielleicht vertreibt der Alkohol wenigstens für eine Weile den Schmerz in meiner Seite.
Wir trinken abwechselnd weiter - ein großer Schluck für ihn, ein kleiner für mich bis der Junge die Flasche wieder verkorkt. Er scheint den Wein in dem Moment wegzustellen, als er merkt, dass der Alkohol ihm die Sinne zu vernebeln beginnt. Doch schon jetzt wirken seine Augen glänzender und die blauen Iris nehmen einen wunderschönen Schimmer an.
Er mag vielleicht darauf geachtet haben, dass der Wein ihm nicht die Konzentration raubt, aber ich kann ihm ansehen, dass er jetzt wesentlich entspannter ist. »Erzähl mal«, fordere ich ihn auf.
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