Legend - Fallender Himmel
aus wie das Mädchen, das ich auf der Straße kennengelernt habe. Sie beugt sich zu mir herunter, so dicht, dass ihre Lippen mein Ohr streifen und ich ihren Atem auf der Haut spüre. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern, das nur noch ich hören kann. »Das mit deiner Mutter tut mir leid. Meine Vorgesetzte hat mir versprochen, dass keine Zivilisten zu Schaden kommen würden, und sie hat sich nicht an ihr Wort gehalten. Ich ...« Ihre Stimme bebt kurz. Es klingt tatsächlich, als täte es ihr leid. Als ob mir das etwas bringen würde. »Ich wünschte, ich hätte Thomas aufhalten können. Du und ich, wir sind Feinde, mach dir da nur nichts vor ... aber dass so was passiert, wollte ich nicht.« Dann richtet sie sich wieder auf und dreht sich weg. »Das sollte fürs Erste reichen.«
»Warte.« Mit aller Kraft schlucke ich meine Wut hinunter und räuspere mich. Die Frage, vor der ich am meisten Angst habe, sprudelt aus mir heraus, bevor ich es verhindern kann: »Ist sie am Leben? Was habt ihr mit ihr gemacht?«
Das Mädchen dreht sich zu mir um. An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie genau weiß, von wem ich rede. Tess. Ist sie am Leben? Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst.
Doch sie schüttelt bloß den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie ist für uns nicht von Interesse.« Sie nickt einem der Soldaten zu. »Gebt ihm den restlichen Tag kein Wasser und bringt ihn in die Zelle am Ende des Gangs. Vielleicht ist er morgen früh ein bisschen kooperativer.« Es ist ein seltsames Bild, wie der Soldat vor jemandem salutiert, der so viel jünger ist als er selbst.
Sie hat den anderen nichts von Tess erzählt, wird mir klar. Aus Rücksicht auf mich? Oder auf Tess?
Dann ist das Mädchen weg und ich bleibe allein mit den Soldaten in der Zelle zurück. Sie zerren mich von meinem Stuhl und über den Fußboden zur Tür hinaus. Mein verletztes Bein schleift über die Fliesen. Ich kann nichts dagegen tun, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Der Schmerz raubt mir fast die Sinne und ich fühle mich, als würde ich in einem bodenlosen See ertrinken. Die Soldaten bringen mich einen breiten Gang hinunter, der mir vorkommt, als wäre er mindestens eine Meile lang. Überall sind Soldaten und Ärzte mit Schutzbrillen und weißen Handschuhen. Ich muss auf der Krankenstation gelandet sein. Wahrscheinlich wegen meines Beins.
Mein Kopf sinkt nach vorn. Ich kann ihn nicht mehr hochhalten. Ich sehe wieder das Gesicht meiner Mutter vor mir, als sie zusammengesackt auf dem Boden liegt. Ich war es nicht , will ich schreien, doch aus meiner Kehle dringt kein Laut. Der Schmerz in meinem verwundeten Bein überwältigt mich abermals.
Wenigstens ist Tess in Sicherheit. Ich versuche, ihr in Gedanken eine Warnung zu schicken, dass sie Kalifornien verlassen und rennen soll, so weit sie kann.
In diesem Moment, auf halbem Weg den Flur hinunter, fällt mir etwas ins Auge. Eine kleine rote Zahl - eine Null -, die genauso aussieht wie die Nummern, die ich unter der Veranda meiner Eltern und an der Böschung des Seeufers gesehen habe. Da steht sie. Ich drehe den Kopf, als wir an der Flügeltür Vorbeigehen, auf die die Zahl gesprüht ist. In der Tür sind keine Fenster, aber eine weiß gekleidete Person mit Gasmaske betritt soeben den Raum und ich kann einen kurzen Blick hineinwerfen. Im Gehen sehe ich kaum mehr als verschwommene Umrisse, aber eins erkenne ich ganz deutlich. Etwas unter einer Plane auf einer Bahre. Eine Leiche. Auf der Plane prangt ein rotes X.
Dann fällt die Tür wieder zu und wir gehen weiter.
Eine Reihe von Bildern zieht vor meinem geistigen Auge vorbei. Die roten Zahlen. Das durchgestrichene X an der Haustür meiner Familie. Die Militärkrankenwagen, mit denen sie Eden abgeholt haben. Edens Augen - schwarz und blutend.
Sie wollen etwas von meinem kleinen Bruder. Irgendetwas, das mit seiner Krankheit zu tun hat. Wieder denke ich an das durchgestrichene X.
Was ist, wenn Eden sich nicht zufällig mit der Seuche angesteckt hat? Was ist, wenn sich niemand zufällig damit ansteckt?
JUNE
An diesem Abend zwinge ich mich, ein hübsches Kleid anzuziehen und an Thomas’ Seite zu einem spontan organisierten Ball zu gehen. Mit dem Fest soll die Gefangennahme eines gefährlichen Verbrechers gefeiert werden und gleichzeitig soll es eine Belohnung für uns alle sein, die dazu beigetragen haben, dass er nun endlich seiner gerechten Strafe zugeführt wird.
Als wir ankommen, treten
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