Legend - Fallender Himmel
behutsam er meine Wunde verbunden hat. Seit seiner Gefangennahme habe ich Hunderte Male darüber nachgegrübelt. Der Day, der meinen Bruder getötet hat, ist ein grausamer, skrupelloser Verbrecher. Aber wer ist dann der Day, den ich auf der Straße kennengelernt habe? Wer ist dieser Junge, der seine eigene Sicherheit für ein Mädchen riskiert, das er überhaupt nicht kennt? Wer ist der Day, der so schmerzlich um seine Mutter trauert? Sein Bruder, John, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, hat kein bisschen wie ein schlechter Mensch gewirkt, als ich ihn in seiner Zelle verhört habe - er hat mir sein eigenes Leben für Days geboten, verstecktes Geld für Edens Freiheit. Wie kann ein hartherziger Verbrecher Teil dieser Familie sein? Die Erinnerung an Day, der sich, an einen Stuhl gefesselt, über seinem verwundeten Bein zusammenkrümmt, löst gleichzeitig Wut und Verwirrung in mir aus. Ich hätte ihn gestern töten können. Ich hätte ein paar Kugeln in meine Pistole laden und ihn erschießen können. Einfach so. Aber ich hatte das Magazin meiner Waffe leer gelassen.
»Diese dreckigen Herumtreiber sind doch alle gleich«, redet Thomas weiter und klingt wie ein Echo dessen, was ich in der Zelle zu Day gesagt habe. »Haben Sie gehört, dass Days kranker Bruder, der kleine, gestern versucht hat, Commander Jameson ins Gesicht zu spucken? Wollte sie anstecken mit seinem wie auch immer mutierten Seuchenvirus.«
Über Days jüngeren Bruder habe ich mir bisher kaum Gedanken gemacht. »Sagen Sie«, beginne ich, doch dann halte ich inne und sehe Thomas an, »was genau hat die Republik eigentlich mit diesem Jungen vor? Warum haben sie ihn ins Krankenhauslabor gebracht?«
Thomas senkt die Stimme. »Dazu kann ich nichts sagen. Das meiste davon unterliegt strengster Geheimhaltung. Aber ich weiß, dass ein paar Generäle von der Front hier sind, um ihn sich anzusehen.«
Ich runzele die Stirn. »Sie sind extra seinetwegen gekommen?«
»Na ja, einige hatten sowieso hier in der Stadt zu tun. Aber sie haben wohl ausdrücklich auf dem Besuch im Labor bestanden.«
»Warum sollten sich die Leute von der Front für Days kleinen Bruder interessieren?«
Thomas zuckt mit den Schultern. »Wenn es etwas gibt, das wir wissen sollten, wird der Commander uns schon informieren.«
Ein paar Minuten später tritt uns ein massiger Mann mit einer Narbe, die von seinem Kinn bis zum Ohr verläuft, in den Weg. Chian. Er schenkt uns beiden ein breites Grinsen und legt seine Hand auf meine Schulter. »Agent Iparis! Wie ich höre, findet diese Feier Ihnen zu Ehren statt. Sie sind ein Star! Ich sage Ihnen, meine Liebe, in den gehobeneren Kreisen spricht man von nichts anderem mehr als von Ihrer hervorragenden Leistung. Besonders Commander Jameson - sie prahlt mit Ihnen, als wären Sie ihre eigene Tochter. Meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung und zu der netten kleinen Belohnung. Mit 200'000 Noten können Sie sich Dutzende solcher hübscher Kleider gönnen.«
Ich zwinge mich zu einem höflichen Nicken. »Sie sind zu freundlich, Sir.«
Chian lächelt, wodurch sich seine Narbe verzerrt, und schlägt dann die behandschuhten Hände zusammen. Seine Uniform ist dermaßen mit Abzeichen und Medaillen behängt, dass er damit bis auf den Grund des Ozeans sinken würde. Überraschenderweise ist darunter ein Orden in Purpur und Gold, was bedeutet, dass Chian einmal ein gefeierter Kriegsheld gewesen sein muss, obwohl es mir ziemlich unwahrscheinlich vorkommt, dass er jemals für seine Kameraden sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Außerdem würde das bedeuten, dass er einen Körperteil eingebüßt hat. Seine Hände scheinen unversehrt, also muss er eine Beinprothese tragen. Aus dem leichten Winkel, in dem Chian sich nach vorne lehnt, schließe ich, dass es sich um sein rechtes Bein handelt.
»Folgen Sie mir, Agent Iparis. Und Sie auch, Captain«, kommandiert Chian. »Ich möchte Sie jemandem vorstellen.«
Das muss die Person sein, von der Commander Jameson gesprochen hat. Thomas wirft mir einen geheimnisvollen Blick zu und lächelt.
Chian führt uns durch den Bankettsaal und über die Tanzfläche in Richtung eines dicken marineblauen Vorhangs, der einen großen Teil des Raums vom Rest abtrennt. An jedem Ende des Vorhangs ist ein Ständer mit der Republikflagge positioniert, und als wir näher kommen, erkenne ich, dass auch der Vorhang ein dezentes Flaggenmuster hat.
Chian hält den Vorhang für uns zur Seite und zieht ihn hinter sich
Weitere Kostenlose Bücher