Legend - Fallender Himmel
töte ich nämlich keine Menschen.«
Das Mädchen reagiert nicht. Eine Weile starren wir einander bloß an. Ich spüre einen seltsamen Anflug von Mitleid und schiebe das Gefühl sofort beiseite. Für jemanden, der für die Republik arbeitet, kann ich kein Mitgefühl aufbringen.
Sie gibt einem der Soldaten, die an der Tür stehen, ein Zeichen. »Der Gefangene in 6822. Schneiden Sie ihm die Finger ab.«
Ich werfe mich nach vorn, doch meine Handschellen und der Stuhl halten mich zurück. In meinem Bein explodiert wieder der Schmerz. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand solche Macht über mich hat. »Ja, ich bin für den Einbruch verantwortlich!«, rufe ich. »Aber dass ich ihn nicht getötet habe, ist die Wahrheit. Ich gebe zu, dass ich ihn verletzt habe, ja, ich musste fliehen und er hat versucht, mich aufzuhalten. Aber das Messer, das ich geworfen habe, kann unmöglich mehr als eine Schulterwunde verursacht haben. Bitte ... ich beantworte ja deine Fragen. Ich habe bisher auf alles geantwortet.«
Das Mädchen blickt mich wieder an. »Nicht mehr als eine Schulterwunde? Vielleicht hättest du genauer hinsehen sollen.« In ihren Augen lodert jetzt ein tiefer Zorn, der mich bestürzt.
Ich versuche, mich an die Nacht zu erinnern, in der ich Metias gegenüberstand - an den Moment, in dem er seine Pistole auf mich gerichtet hatte und ich mein Messer auf ihn. Ich habe es nach ihm geworfen ... und es hat ihn in die Schulter getroffen. Da bin ich mir ganz sicher.
Oder?
Nach einem Augenblick bedeutet das Mädchen dem Soldaten, dass er warten soll. »Laut den Aktenbeständen der Republik«, wendet sie sich dann wieder an mich, »ist Daniel Altan Wing vor fünf Jahren in einem unserer Arbeitslager an Pocken gestorben.«
Das entlockt mir ein Schnauben. Arbeitslager. Ja, klar, und der Elektor wird für jede neue Amtszeit ordnungsgemäß wiedergewählt. Entweder glaubt das Mädchen diesen ganzen verlogenen Mist tatsächlich oder sie will mich reizen. Eine alte Erinnerung dringt plötzlich an die Oberfläche - eine Kanüle, die in eins meiner Augen gestochen wird, eine kalte Metallliege und helles Deckenlicht -, doch sie verschwindet so schnell wieder, wie sie gekommen ist.
»Daniel ist tot«, erwidere ich. »Ihn gibt es schon lange nicht mehr.«
»Ziemlich genau, seit du deine kleine Verbrecherkarriere auf der Straße gestartet hast, nehme ich an. Fünf Jahre. Scheint, als hättest du dich ein bisschen zu sehr darauf verlassen, dass du immer mit allem davonkommst. Bist mit der Zeit nachlässig geworden, was? Hast du jemals für irgendwen gearbeitet? Oder jemand für dich? Hast du Verbindungen zu den Patrioten?«
Ich schüttele den Kopf. Dann kommt mir eine entsetzliche Frage in den Sinn, eine Frage, die zu stellen ich zu viel Angst habe. Was hat sie mit Tess gemacht? »Nein. Sie haben öfter versucht, mich anzuwerben, aber ich arbeite lieber allein.«
»Wie bist du aus den Arbeitslagern geflohen? Wie ist es so weit gekommen, dass du Los Angeles in Angst und Schrecken versetzt, anstatt für die Republik zu arbeiten, wie es dir bestimmt war?«
So denkt die Republik also über die Kinder, die den Großen Test nicht bestehen. »Wen interessiert das? Ich bin doch jetzt hier.«
Diesmal scheine ich bei dem Mädchen einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben, denn sie kickt mich mitsamt dem Stuhl rückwärts, bis es nicht mehr weitergeht, und knallt dann meinen Hinterkopf gegen die Wand. Bunte Pünktchen flimmern vor meinen Augen. »Ich werde dir sagen, wen das interessiert«, zischt sie. »Mich interessiert es, weil mein Bruder nämlich noch leben würde, wenn du nicht entkommen wärst. Und weil ich sichergehen will, dass nie wieder so ein dreckiger Herumtreiber von der Straße, der ins Arbeitslager geschickt wurde, vor dem System fliehen kann - damit sich so etwas wie das hier niemals wiederholt.«
Ich lache ihr ins Gesicht. Der Schmerz in meinem Bein heizt meine Wut zusätzlich an. »Ach, das ist alles, was dir Sorgen macht? Eine Handvoll rebellischer Testversager, die es schaffen könnten, ihrem eigenen Tod zu entrinnen? Echt eine Riesenbedrohung, so ein Haufen Zehnjähriger, was? Und ich sage dir noch mal, dass du auf dem Holzweg bist. Ich habe deinen Bruder nicht getötet! Aber du hast meine Mutter getötet! Du hättest ihr genauso gut selbst die Waffe an den Kopf halten können! «
Ihr Gesicht wird hart, doch dahinter sehe ich einen Anflug von Zweifel, wenn auch nur ganz kurz, und für einen Moment sieht sie wieder
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