Legende der Angst
– es wurde nicht eine Sekunde lang bezweifelt, daß es sich um einen Meteor gehandelt hatte – auf die Erde gestürzt war. Angela war überrascht zu lesen, daß der Verfasser des Artikels mit Hilfe eines radioaktiven Strahlentests herausgefunden hatte, daß der Meteor erst vor einhunderttausend Jahren eingeschlagen war. Angela kannte sich ein wenig in Astronomie aus. Einhunderttausend Jahre waren nicht viel. Der Autor beschrieb danach, daß die magnetische Strahlung des Gesteins im und um den Point Lake herum extrem hoch sei. Er schloß damit, daß man diesen Zustand mit den Gegebenheiten an einem Ort in Südamerika vergleichen könne, an dem ebenfalls ein Meteor niedergekommen war. Zudem äußerte er die Vermutung, daß beide Löcher zur selben Zeit von dem gleichen hochmagnetischen Erz von irgendwo aus dem All geformt worden waren.
Er sagte nichts darüber, daß das Wasser im See gesundheitsschädlich sein könnte.
Angela notierte sich den Namen des Verfassers des Artikels – Alan Spark. Er war Professor der Geologie an der Universität von Michigan. Das war mit dem Auto nur neunzig Minuten von Point entfernt. Vielleicht würde sie Professor Spark irgendwann einen Besuch abstatten.
Sich durch das Material über die Ureinwohner Amerikas zu wühlen, dauerte einige Zeit länger. Offensichtlich waren die Manton der mächtigste Stamm in der Gegend gewesen, bis vor einigen hundert Jahren der weiße Mann gekommen war und ihren Lebensraum zerstört hatte. Mehrfach wurde von Kämpfen berichtet, von Verträgen, die unterzeichnet worden waren, und von weiteren Kämpfen. Angela konnte nicht fassen, wie viele Versprechungen die Regierung der Vereinigten Staaten den Manton gemacht und dann gebrochen hatte. Diese Ureinwohner Amerikas waren entweder ein sehr vertrauensseliges Volk gewesen, oder ihr Gedächtnis war nicht eben besonders gut. Andererseits hatten sie vielleicht gar keine andere Wahl gehabt, als den Vertragsvorschlägen der Regierung zuzustimmen. Der Lauf der Geschichte hatte sie überrollt, und sie hatten dem nichts entgegensetzen können. In den Schilderungen aus längst vergangenen Zeiten stieß Angela auch auf einige interessante Fakten, was den Point Lake anging. Zuerst einmal lautete der indianische Name des Sees Sethia, was soviel hieß wie See des Blutes. Angela hielt inne und fragte sich, warum sie einem so idyllischen Fleckchen Erde einen so grausamen Namen gegeben hatten. Sie wühlte sich weiter durch die Unterlagen, um vielleicht eine Erklärung dafür zu finden. Möglicherweise hatte ja einst ein grausamer Kampf dort stattgefunden. Es gab jedoch keinen Hinweis darauf, daß diese Vermutung richtig war. Der See schien schon vor langer Zeit Sethia getauft worden zu sein, möglicherweise vor Tausenden von Jahren. Und im Zusammenhang mit diesem Namen wurde ein anderer seltsamer Name erwähnt – KAtuu. Angela stieß auf eine Geschichte, in der davon erzählt wurde, daß KAtuu aus den Tiefen des Sees aufgestiegen waren. An anderer Stelle sprach man davon, daß KAtuu aus dem Himmel über dem Wasser gekommen seien. So sehr Angela sich auch bemühte, es gelang ihr nicht zu ergründen, was diese KAtuu denn nun eigentlich genau waren.
Einmal wurden sie als winzige Insekten beschrieben, zu klein, als daß sie ein Mensch mit bloßem Auge erkennen konnte. Dann hieß es, es handele sich bei ihnen um fledermaus-ähnliche Wesen, die in kurzer Zeit große Distanzen zurückzulegen vermochten. Immer wurde von ihnen als tödlich oder als zumindest gefährlich gesprochen. Und vor allem war eins klar: daß nämlich die Manton den Point Lake, wenn möglich, mieden. Es schien sogar, daß es ihnen jahrzehntelang gelungen war, das Gebiet um den See hermetisch abzuriegeln. Es galt als heilige Regel unter den Manton, daß keiner ihres Stammes, unter keinen Umständen, Wasser aus dem See trinken durfte.
»O Himmel«, murmelte Angela vor sich hin. »Jemand hätte den Verantwortlichen der Schulbehörde diese Unterlagen hier einmal zeigen sollen.«
»Hast du irgend etwas gesagt?« fragte die alte Bibliothekarin und stellte den Recorder ab. Angela war so in ihre Nachforschungen versunken gewesen, daß sie nicht hätte sagen können, was die Frau sich zuletzt angehört hatte.
»Ich habe nur zu mir selbst gesagt, wie faszinierend die Geschichte der Indianer in dieser Gegend doch ist«, erwiderte sie.
Die Frau klatschte in die Hände – sie war erfreut, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. »Ja, nicht wahr?« meinte sie.
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