Legende der Angst
»Aber wenn du wirklich wundervolle Geschichten über die Indianer hören willst, die hier gelebt haben, mußt du mit Glänzender Feder reden. Er kann dir alles aus erster Hand erzählen. Er ist schon ziemlich alt.«
»Mit Glänzender Feder?«
»Ja. Er ist ein alter Indianer, der am Highway 17 lebt, nahe Wind Break. Dort gibt es einen Laden, der Cheap Stuff heißt. Die Urgroßenkelin von Glänzender Feder führt ihn. Du mußt bei ihr auf der Hut sein. Sie wird versuchen, dir einen ihrer Teppiche oder eine Decke zu verkaufen, ob du interessierst bist oder nicht. Ich habe schon drei davon zu Hause bei mir im Schrank liegen.«
»Wie alt ist Glänzende Feder?« fragte Angela.
»Ich weiß nicht. Sein Haar war schon weiß, als ich ihn kennengelernt habe.« Die alte Frau hielt inne und kratzte sich am Kopf. Sie runzelte die Stirn. »Das ist damals während der Weltwirtschaftskrise gewesen, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
Von der Bibliothek aus fuhr Angela zu dem Laden, hielt aber unterwegs noch einmal an, um sich etwas zu essen zu kaufen. Vielleicht war sie schwanger, und die Empfängnis war während eines erotischen Traumes über sie gekommen. Sie kaufte sich etwas, das sie sonst nie aß: eine dreißig Zentimeter lange Wurst und ein Brot. Von dem Brot aß sie allerdings nicht einen einzigen Krümel. Die Wurst schlang sie gierig hinunter, als sie wieder auf dem Highway 17 war. Erst als die den letzten Zipfel geschluckt hatte, erinnerte sie sich daran, daß man diese Art Würste hier eigentlich briet. Sie hatte rohes Fleisch gegessen.
Trotzdem hatte es großartig geschmeckt.
Der Laden mit dem Namen Cheap Stuff machte von außen einen einfachen Eindruck. Ein Holzanbau an einem in die Jahre gekommenen Backsteinhaus, ein Stück von der Straße ab, mit einem morschen Unterstand für Pferde, die dort im Staub scharren konnten. Angela stellte den Wagen ab und betrat den Laden. Die Urgroßenkelin des alten Indianers begrüßte sie. Ja, sie mußte es sein! Diese Frau war eindeutig indianischer Herkunft, und sie hielt eine Decke in der Hand, die sie Angela anpreisen wollte.
»Ich bin eigentlich hier, um mit Glänzender Feder zu sprechen«, sagte Angela und schaute sich um. Auf den Regalen standen getöpferte Waren, geflochtene Körbe, handgeschnitzte Holzfiguren – nichts, was für ein junges Mädchen interessant gewesen wäre, das inmitten von riesigen Einkaufszentren großgeworden war.
»Feder hält gerade seinen Nachmittagsschlaf«, sagte die Frau. Sie war um die dreißig und ziemlich dick. Sie trug das lange schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr bis zu den Hüften reichte. Rasch drückte sie Angela die Decke in die Arme. »Die gebe ich dir für sechzig Dollar. Es ist eine original Manton-Decke.«
Die braune Decke sah aus, als stamme sie aus dem Wal-Mart und als hätte dann jemand mit weißem Zwirn ein paar Bildchen eingestickt. »Ich habe keine sechzig Dollar«, antwortete Angela. »Was ich aber habe, ist die Aufgabe, einen Bericht über die Manton zu schreiben, der bis Montag fertig sein soll. Es ist wirklich sehr wichtig für mich, mit Ihrem Ururgroßvater zu sprechen. Kann ich vielleicht später wiederkommen?«
Die Aufmerksamkeit der Frau schien geweckt. »Wirst du gute Dinge über uns berichten?«
»Sehr gute.«
»Wieviel Geld hast du?«
»Ungefähr zwei Dollar.«
Die Frau griff nach einer kleinen Tonfigur auf einem Regal in ihrer Nähe. Sie stellte ein junges Indianermädchen dar. »Ich werde dir das hier verkaufen und dann Feder wecken gehen.«
»Ich möchte nicht, daß Sie ihn aufwecken. Vielleicht wird er deswegen ungehalten sein.«
Die Frau zuckte mit den Schultern und packte die Tonfigur in eine braune Tüte. »Er schläft den lieben langen Tag. Ich werde ihn früher oder später ohnehin wecken müssen.«
Angela gab der Frau ihre letzten zwei Dollar, und diese verschwand daraufhin in einem Hinterzimmer. Angela kam zu dem Schluß, daß sie auf dem Heimweg ganz sicher an einem Geldautomaten anhalten mußte. Sie würde bestimmt nicht zum Haus ihres Großvaters zurückfahren, ohne vorher noch Lebensmittel eingekauft zu haben. Sie sah auf die Uhr – kurz nach halb sechs. Jim hatte gesagt, daß er sich um sieben wieder mit ihr treffen wollte.
Die Frau kam zurück und bedeutete Angela, ihr in den gemauerten Bereich des Hauses zu folgen, der nur wenig komfortabler schien als der Anbau. Sie durchquerten eine Küche, in der entsetzliche Unordnung herrschte, ein ärmlich
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