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Legende der Angst

Legende der Angst

Titel: Legende der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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einzugehen – sie konnte nicht zulassen, daß Mary starb. Sie rannte die Straße hinunter zu ihrem nagelneuen Toyota Camry, einem Geschenk ihres Vaters, mit dem er hoffte, sie all ihre Schmerzen über die Scheidung der Eltern vergessen zu machen. Er war es gewesen, der die Scheidung eingereicht hatte. Seit jenem Tag im Juni hatte Angela weder ihren Vater noch ihre Mutter gesehen.
    Der Wagen sprang sofort an, und Angela ließ die Reifen auf dem Asphalt durchdrehen, als sie losfuhr. Zuerst lenkte sie den Wagen von dem Feld und dem Point Lake fort in Richtung View Street – der einzigen Straße, die um den See herum führte. Als sie diese wenige Minuten später erreicht hatte, erhöhte sie die Geschwindigkeit auf siebzig Meilen. Der See war jetzt rechts von ihr. Der Point Lake maß ungefähr fünfhundert Meter im Durchmesser – eine fast kreisrunde Fläche tiefblauen Wassers. Obwohl das Haus ihres Großvaters am anderen Ufer des Sees stand, war Angela nie im See schwimmen gegangen. Selbst während der heißen Sommertage in Michigan blieb das Wasser erstaunlich kalt.
    Nur einige Minuten später erreichte sie den Wald im Süden des Sees und stellte den Wagen in der Nähe des Wassers gleich bei den ersten Bäumen ab. Als Angela ausstieg, fiel ihr plötzlich ein, daß ihr vielleicht ebenso große Gefahr von seiten der Polizei drohte wie Mary. Sie hatten beide kurzes braunes Haar und waren auch ungefähr gleich groß; die Polizisten könnten sie erschießen, weil sie sie für Mary hielten. Eilig schob Angela diesen Gedanken beiseite. Der Beamte in Zivil, mit dem sie gesprochen hatte, würde nicht schießen, ohne seinem Gegenüber die Möglichkeit geboten zu haben, sich zu ergeben.
    Angela wandte sich dem Wald zu und trat in den Schatten der Bäume. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze. Der Wald lag ganz in der Nähe des großväterlichen Hauses, und sie ging hier oft spazieren. Tatsächlich war sie erst eine Woche zuvor noch mit Mary hier gewesen. Mary war ungewöhnlich still gewesen, so, als gäbe es vieles, über das sie nachdenken müsse. Wenn Angela nur gefragt hätte, was sie beschäftigte, vielleicht hätte dann verhindert werden können, was heute abend passiert war.
    Angela kämpfte eine plötzlich in ihr aufsteigende Welle von Übelkeit nieder.
    Todds Eingeweide, die die Wand hinunterglitten.
    Teile von Kathys Gehirn, die auf dem Geländer und auf dem Boden klebten.
    Es war zuviel.
    »Mary«, flüsterte Angela. »Warum?« Dann legte sie die Hände wie einen Trichter um ihren Mund und rief: »Mary! Mary! Ich bin’s, Angela!«
    Das Echo ihrer Worte hallte schwach durch den Pinienwald und über das Wasser. Es war eine warme Nacht – eine merkwürdig stille Nacht. Sie drang tiefer in den Wald vor, fort vom Wasser, teils lief sie, teils ging sie. Das ist verrückt, dachte sie. Vielleicht hat Jim gar nicht diesen Weg genommen. Vielleicht hat Mary ihm auch schon den Kopf von den Schultern geblasen. Angela Warner könnte dann die nächste auf ihrer Liste sein. Doch daß es so sein würde, daran glaubte Angela nicht wirklich. Mary war hinter Jim Kline her – sie jagte ihn verbissen.
    Jim und Todd und Kathy. Was hatten diese drei gemeinsam?
    Jim und Todd waren Footballspieler, Kathy war Cheerleader – oder zumindest war sie es gewesen. Das konnte aber nicht das Entscheidende sein, das sie verband. Angela fühlte sich elend, als sie sich vorstellte, wie es für Todds und Kathys Eltern sein mußte, wenn sie erfuhren, was mit ihren Kindern geschehen war. Es war wirklich Ironie des Schicksals; Angela stammte ursprünglich aus Chicago. Einer der Gründe, warum sie sich dafür entschieden hatte, zu ihrem Großvater nach Point zu ziehen und dort ihr letztes High-School-Jahr zu absolvieren, war der gewesen, daß sie in einer friedvollen Umgebung hatte leben wollen. Die Kämpfe ihrer Eltern, als deren Ehe dem Ende zugegangen war, hatten eine tiefe Abneigung gegen Streitigkeiten in ihr Herz eingebrannt. Und jetzt war sie erst drei Monate in dieser netten kleinen Stadt und hatte mit ansehen müssen, wie unmittelbar vor ihren Augen zwei Menschen erschossen wurden.
    »Mary!« rief sie wieder.
    Eine Hand schoß hinter einem Baum hervor und legte sich über ihren Mund.
    Angela erstarrte vor Entsetzen.
    »Verrat ihr nicht, wo wir sind!« zischte ihr eine Stimme ins Ohr.
    Es war Jim. Angela entspannte sich, als er langsam die Hand sinken ließ. Er hob einen Finger an die Lippen. Sie verstand, was er meinte.
    »Ist sie hier irgendwo in

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