Legende der Angst
sondern kauerte hinter ihr, benutzte sie als menschlichen Schild. Sie machte ihm dafür nicht den geringsten Vorwurf. Gleich hinter ihm fing die Lichtung an, aber jetzt war es zu spät, noch loszulaufen. Mary würde ihn von den Beinen holen, noch bevor er drei Schritte gemacht hätte.
Es überraschte Angela, daß er Mary nicht um Gnade anflehte.
Angela wandte sich wieder zu Mary um und sah ihr direkt in die Augen. Mary konnte nicht mehr weiter als fünf Meter von ihnen entfernt sein. Tiefhängende Äste versperrten ihr nicht länger die Sicht.
»Du bist meine Freundin«, sagte Angela. »Ich glaube nicht, daß du mich töten wirst.«
Mary dachte eine Weile über diese Worte nach. Es schien, als wäre sie endlich im Begriff, Vernunft anzunehmen. Angela entspannte sich sogar schon ein wenig, doch dann nahm Mary das Gewehr fester in die Hand.
»Es tut mir leid, Angela«, sagte sie mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme, »aber es gibt Dinge auf dieser Welt, die wichtiger sind als Freundschaft.«
Sie wird schießen. Ich werde sterben.
Angela konnte nicht fassen, daß dies alles geschah.
Sie schloß die Augen.
Und sie sagte der Welt Lebewohl, von der Mary behauptete, daß sie sie ohnehin nicht verstand.
Aber der tödliche Schuß wurde nie abgefeuert.
»Stehenbleiben«, befahl eine Männerstimme. »Beweg dich nicht, keinen Zentimeter.«
Angela öffnete die Augen. Mary stand immer noch an genau derselben Stelle, ihr Kopf völlig unbewegt, aber ihre Augen blickten nach links und nach rechts. Angela erkannte die Stimme als die des Beamten, mit dem sie vor Jims Haus gesprochen hatte. Aber der Wald um sie herum machte das Ganze wie schon zuvor unheimlich, weil wieder nicht zu sagen war, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war.
Dem Mann schien das auch klar zu sein, denn er machte keine Anstalten, sich zu zeigen.
»Leg das Gewehr auf den Boden«, befahl er. »Ganz langsam.«
Mary suchte weiter die Gegend ab, ohne sich zu rühren.
»Tu, was ich gesagt habe«, ließ sich der Polizist entschieden vernehmen.
Mary atmete tief durch. Sie gab noch immer nicht auf. »Ich kann Sie nicht sehen«, erklärte sie. »Wer sagt mir also, daß Sie mich sehen können?«
»Ich kann dich sogar sehr gut sehen«, erwiderte der Polizist ruhig.
Mary wandte den Kopf leicht nach rechts. Angela glaubte schließlich zu wissen, wo der Beamte war – hinter den Büschen gleich bei der Wiese.
»Ich habe einen guten Grund dafür, daß ich diesen Jungen töten muß«, sagte Mary.
»Fein«, entgegnete der Polizeibeamte geduldig. »Du kannst mir alles darüber erzählen, sobald du das Gewehr hingelegt hast.«
»Und wenn ich das nicht tue?« fragte Mary. Zweifellos spähte sie auch zu den Büschen hinüber, und Angela fürchtete bereits, daß sie einen Schuß darauf abgeben würde. Sie war versucht, etwas zu sagen, den Polizisten zu warnen, aber sicher war er sich der Gefahr, in der er schwebte, durchaus bewußt.
»Dann würde ich auf deinen Kopf zielen und abdrücken«, beantwortete der Beamte ihre Frage. »Ich bin ein ausgezeichneter Schütze und würde mein Ziel nicht verfehlen. Leg das Gewehr jetzt auf den Boden.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, stieß Mary hervor.
»Ich werde dir noch fünf Sekunden geben«, sagte der Mann völlig ruhig. »Eins, zwei, drei, vier…«
»Warten Sie«, unterbrach Mary ihn, »ich lege es weg.«
»In Ordnung«, meinte der Mann. »Aber keine hastigen Bewegungen.«
Mary hockte sich hin, das Gewehr weit von sich gestreckt. Angela war nur mehr ein einziges Nervenbündel. Sie rechnete immer noch damit, daß Mary auf den Polizisten schoß. Dann ließ Mary das Gewehr jedoch plötzlich aus den Händen gleiten, und es fiel auf das weiche Laub.
»Jetzt steh auf«, sagte der Polizist. »Leg die Hände auf den Kopf und laß sie dort.«
Mary gehorchte.
Der Polizist verließ seine Deckung, den Revolver in seiner rechten Hand. Er war hinter den Büschen gewesen.
»Gott sei Dank«, flüsterte Jim. Er trat an Angelas Seite.
»Keinen Schritt weiter!« schrie der Polizist.
Seine Warnung kam zu spät. Mary war hinter einen Baum getaucht. Bis jetzt hatte sie noch nicht versucht, sich ihr Gewehr zurückzuholen. Doch das war auch nicht nötig, sie war gut ausgerüstet zur Party gekommen. Sie griff mit der Rechten hinter ihren Rücken und hielt einen Augenblick später eine Pistole in der Hand. Auf der Party war Angela diese zweite Waffe gar nicht aufgefallen. Mary mußte sie unter ihren Gürtel gesteckt und das
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