Legende der Angst
gewesen war, wie es zu sein schien. In den vergangenen Tagen hatte sie das eine oder andere über diejenigen gelernt, die zuviel vom Wasser des Sees getrunken hatten. Sie hatten einen ganz spezifischen Appetit. Angela öffnete die Augen wieder. Die Blutlache, die sich um den Polizisten ausgebreitet hatte, war nicht groß, wenn man die Schwere seiner Verletzung bedachte. Der Fleck auf Marys T-Shirt war relativ klein, wo doch die Wunde am Hals so tief war. Die KAtuu hatten nicht widerstehen können, einen kleinen Imbiß zu nehmen – ein ganz klein wenig Blut zu trinken, während sie bei der Arbeit gewesen waren.
Angela wünschte, in diesem Moment nicht auch an Essen denken zu müssen. Die nächste Tragödie begann mit einem Akt des guten Willens. Sie entschied, daß sie ihre Freundin nicht einfach dort hängen lassen konnte. Sie holte einen Stuhl aus der Küche und schob ihn unter Marys Füße. Sie rechnete nicht damit, daß es leicht werden würde, Mary weit genug hochzuheben, um die Drahtschlinge zu lösen und sie ihr dann über den Kopf zu schieben. Doch entweder hatte Mary im Gefängnis mehr an Gewicht verloren, als sie und andere angenommen hatten, oder Angela Warner war plötzlich zu einem wirklich starken Mädchen geworden. Innerhalb von Sekunden hatte sie die Schlinge gelöst. Sie hielt Mary fest an sich gedrückt, als sie gemeinsam auf den Teppich fielen. Schöne Mary – Angela hatte sie immer so sehr um ihr glänzendes braunes Haar beneidet, um ihre großen grünen Augen. Mary hatte zumindest noch Gelegenheit gehabt, diese zu schließen, bevor das Ende gekommen war. Angela lehnte ihr Gesicht an das ihrer Freundin und wusch Marys Blut mit ihren Tränen fort.
Du warst die Tapfere von uns beiden. Du hast dich allein auf die Jagd nach ihnen gemacht. Du hast nicht um Hilfe gebeten, und als man dich geschnappt hat, hast du nicht gejammert. Du warst großartig. Ich werde dich immer als großartig in Erinnerung behalten, auch wenn die Welt dich bis ans Ende ihrer Tage verurteilen wird. Ich bin nicht wie du, ich kann nicht wie du sein, aber ich schwöre, daß ich nicht ruhen werde, bis das zu Ende geführt ist, was du begonnen hast. Bis jeder von diesen blutleckenden Bastarden im Dreck liegt, ein Loch in seinem Herzen.
»Mary«, schrie Angela, und unkontrolliertes Schluchzen schüttelte ihren Körper. Aber dieses Beben hatte außer Trauer noch einen anderen Grund. Angela konnte nicht aufhören zu zittern, weil sie hungrig war. Sie hielt ihre tote Freundin in den Armen, ihre tote beste Freundin, und sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie gut es wohl wäre, sich tiefer hinabzubeugen und den Mund zu öffnen und…
»Ich werde es nicht tun!« brüllte sie.
Trotzdem konnte sie Mary noch nicht loslassen. Sie konnte nicht aufstehen und aus der Hütte rennen und retten, was von ihrem Heil noch zu retten war. Sie schloß die Augen und betastete die Wunde an Marys Hals mit ihren Fingerspitzen. Dann hob sie ihre blutigen Finger und preßte sie an ihre eigenen Lippen. Die Erregung, die sie erfüllte, war die, die das Zusammensein mit Jim in ihr weckte. Etwas, nach dem sie sich eine unbeschreiblich lange Zeit gesehnt zu haben schien, war mit einem Mal Wirklichkeit geworden. Sie seufzte und berührte Marys Wunde noch einmal – sachte und voller Respekt – und hob die Finger erneut an ihre Lippen. Das Elixier, das Jim sie hatte kosten lassen. Sie saugte hungrig an ihren Fingern. Fester und fester. Um auch nicht einen einzigen Tropfen zu vergeuden.
Sie saugte so fest, daß sie ihre eigene Hand zu verschlingen drohte.
»Angela«, vernahm sie eine Stimme.
Abrupt öffnete sie die Augen. Lieutenant Nguyen betrat die Hütte. Seltsam, sie hatte seinen Wagen überhaupt nicht kommen hören. Schnell rieb sie sich das Blut von den Lippen.
Heh, es ist alles in Ordnung, ich habe nur das Blut meiner besten Freundin getrunken.
»Hallo«, sagte sie.
Nguyen ließ den Blick über das Szenario schweifen, das sich ihm darbot und konnte nicht anders, als die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, war er kreidebleich im Gesicht. Er trat an Angelas Seite und blinzelte auf sie hinab.
»Was ist hier geschehen?« fragte er.
»Jim Kline war hier«, antwortete sie.
»Hast du… haben Sie ihn gesehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie dann, daß er hier war?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Sie schob Mary von ihrem Schoß und bettete sie auf den Boden. Sie hätte ihre Freundin gern zum Abschied geküßt, aber nicht wenn
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