Legende der Angst
sie jemand dabei beobachtete. Nguyen half ihr auf die Füße.
»Sind Sie mir gefolgt?« wollte Angela wissen.
»Ja. Haben Sie es bemerkt?«
»Nein.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, wiederholte er.
Angela sah ihm in die Augen, und plötzlich fühlte sie eine Kraft ihr Rückgrat hinauf und in ihren Kopf steigen, eine Kraft, die auch von ihr auszustrahlen schien, als sei sie ein Magnetfeld mit Klauen. Das Seltsame war, daß sie nicht überraschte, was mit ihr geschah. Es war, als ob diese Kraft von etwas ausging, das immer schon dagewesen war, sogar schon bevor die ganzen Verrücktheiten angefangen hatten, das sie aber bis zu diesem Zeitpunkt einfach nie benutzt hatte. Die Kraft verlieh ihr eine ungeahnte neue Wahrnehmungsfähigkeit; es kam ihr vor, als halte sie Nguyens Gehirn in ihren Händen. Sie vermochte seine Gedanken nicht zu lesen, doch sie konnte sie berühren, als seien sie aus greifbarem Stoff gemacht. Sie nahm an, daß sie ihn würde glauben machen können, was immer sie wollte, solange sie ihm nur in die Augen sah und in einer bestimmten Weise auf ihn einredete.
»Das kann ich nicht«, sagte sie nur.
Nguyen kniff die Augen zusammen. »Was ist mit Ihnen passiert, Angela?«
Sie wischte sich noch einmal über den Mund. Sie hatte ein paar Tropfen Blut vergessen. »Ich bin zu einem bösen kleinen Mädchen geworden. Ich glaube, ich habe letzte Nacht meine Unschuld verloren. Irgend etwas habe ich jedenfalls verloren, das steht fest.« Ihr Blick bohrte sich in ihn – sie konnte die Verwirrung, die in seinem Kopf herrschte, förmlich spüren, seine Angst vor ihr, die ihn unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. »Lassen Sie mich gehen, Nguyen«, sagte sie mit weicher Stimme. »Hören Sie auf, mir zu folgen. Lassen Sie mich tun, was ich tun muß. In dem Moment, in dem Sie glauben zu verstehen, was vor sich geht, werden Sie tot sein.«
Er schwitzte stark. Er schnappte nach Luft. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Mit einem letzten Blick auf Mary sagte Angela: »Um Ihretwillen hoffe ich, daß Sie es nie begreifen werden.«
Angela verließ die Hütte. Nguyen versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Als Angela zu Hause ankam, wartete Plastic an der Tür auf sie. Sie rannte ins Haus, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Tür zu schließen, und weiter ins Bad, wo sie jemanden im Spiegel sah, den sie kaum erkannte. Gehetzt starrende blaue Augen, die Farbe des Himmels über der anderen Welt. Aber welche Farbe mochte der Himmel haben, in den sie morgen blicken würde? Marys Blut war noch immer überall, auf ihrer Nase, in ihrem Haar.
»Verdammt«, fluchte sie. Sie drehte das Wasser auf, glühend heiß, und spritzte es sich ins Gesicht, einmal und noch einmal, und die ganze Zeit über weinte sie. Ihre Finger bluteten da, wo sie darauf gebissen hatte; dennoch hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Wand, hörte, wie diese knirschte. Sie wollte nicht wie sie sein! Sie würde sie umbringen! Sie würde sich selbst eher umbringen, als zu werden wie sie!
»O geh weg!« Angela stöhnte. Plastic war ihr ins Badezimmer gefolgt und versuchte ihr die Hand zu lecken. Sie hatte die Hündin noch nie so um ihre Gunst bemüht erlebt. Plastic mußte gespürt haben, wie elend es ihr ging.
Angela kniete nieder, um den Kopf des Tieres zu streicheln und ihm den Rücken zu kratzen – Plastic liebte es über alles, gekratzt zu werden. Aber da war die Hitze der Zunge der Hündin, der Duft, der Angela entgegenwehte. Es roch nach Rinderblut. Plastic mußte auf ihrem Knochen herumgekaut haben, bis Angela den Wagen in der Einfahrt abgestellt hatte. Warum nur, fragte sie sich, warum nur hatte Plastic nicht einfach Trockenfutter fressen können? Aber da war der Geruch von Blut – Angela wollte es wirklich nicht tun.
»Es tut mir leid«, brüllte sie.
Sie packte die Hündin fest. Das Tier begann zu zappeln, winselte dann. Angela griff um seinen Hals herum und grub die Fingernägel in seinen Nacken. Plastic jaulte auf, herzzerreißende Laute, die Angela zu unterdrücken versuchte, indem sie eine Hand tief in das Maul des Tieres rammte. Sie war im Begriff, Plastics Kopf in zwei Hälften zu zerreißen…
»Angie«, rief jemand.
Angela ließ von der Hündin ab, und Plastic rannte davon, als sei der Teufel hinter ihr her. Angela atmete schwer. Sie sah auf, obwohl es nicht nötig gewesen wäre; sie hatte die Stimme erkannt.
»Hallo, Jim«, sagte sie.
Er kniete vor ihr, und er sah so gut aus. Ein gesunder, junger Mann, der
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