Legende von Eli Monpress 02 - Herr des Windes
vergessen?
Gin neben ihr zuckte und senkte seinen Kopf, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Es ist nicht zu spät. Du kannst dich immer noch für den Handel entscheiden.«
»Nein«, gab Miranda zurück. »Ich brauche nur eine einfache Stimmenmehrheit, damit alle Anklagen gegen mich fallen gelassen werden. Jede Person in diesem Raum ist ein Spiritist; das bedeutet, dass jeder Einzelne von ihnen, selbst Hern, einen Eid geschworen hat, die Geisterwelt zu beschützen.« Sie verschränkte angespannt die Hände im Schoß. »Was ich in Mellinor getan habe, war nicht falsch oder missbräuchlich, und ich habe den Geist in mir, um es zu beweisen. Jeder Ring in diesem Hof gibt mir die Hoffnung, dass ihre Meister die Wahrheit erkennen und die richtige Wahl treffen werden.«
Gin schüttelte leicht den Kopf, als die Gespräche auf der anderen Seite der Tür verstummten und sich Schweigen ausbreitete, weil die Sitzung begann. »Ich hoffe, du hast recht.«
»Ich ebenfalls«, flüsterte Miranda; dabei umklammerte sie ihre Ringe fester als je zuvor.
Sie warteten in nervösem Schweigen, bis sich schließlich die große Tür öffnete und das helle Licht des Hofes den Raum erhellte. Obwohl sie sich darauf vorbereitet hatte, warf der Schock der hell erleuchteten Hofkammer Miranda für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und marschierte mit hoch erhobenem Kopf und Gin hinter sich durch die Tür und die steilen Stufen nach oben.
Der Gerichtssaal des Hofes war ein runder Raum, der fast den gesamten zweiten Stock des Turms einnahm. Hoch über den Köpfen hingen an der gewölbten Decke weiße Feuer, die in silbernen Haltern ohne Nährstoff oder Hitze brannten. Ihr scharfes Licht verband sich mit dem Sonnenlicht, das durch die hohen milchigen Fenster fiel. Breite Bänke zogen sich in Reihen um den Raum herum von den Wänden nach unten, aber nur die untersten Bänke waren besetzt. Strenge Turmwächter in ihren formellen Roben saßen darauf, die Hände über den Holzwänden verschränkt, die sie von der Freifläche vor ihnen und der erhöhten Kanzel in der Mitte trennten, an der Miranda ihren Fall darlegen würde.
Direkt gegenüber der Tür, durch die sie den Raum betreten hatte, überragte eine riesige Richterbank alles andere im Raum. Sie erhob sich über dem Marmorboden und war aus so altem Holz geschnitzt, dass es jede Farbe verloren hatte und unter seiner Politur nur noch schwarz wirkte. Auf dieser Empore saß Master Banage auf einem Stuhl, so majestätisch wie jeder Thron. Er war in eine strahlend weiße Robe mit hohem Kragen gewandet, der sein Gesicht umrahmte wie eine Schneeverwehung und ihn alt und kühl wirken ließ, wie einen König unter den unfehlbaren Richtern. Um den Hals trug er die Bramante des Turms, die Insignie des Rektor Spiritualis. Sie war geformt wie eine Kette. Jedes Glied bildete einen Knoten aus schwerem Gold, der einen großen Stein hielt, und in jedem Stein wohnte einer der gebundenen Geister, die nicht von einem einzelnen Spiritisten gebunden worden waren, sondern vom Hof selbst. Sie wurden von Rektor zu Rektor weitergegeben und bildeten das lebende Symbol für den Eid des Geisterhofes, die Geisterwelt als gleichberechtigt zu sehen, sie zu schützen und ihr Gerechtigkeit zu verschaffen.
Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick, der so sehr zum Geisterhof gehörte wie der Turm selbst. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung Kanzel machte, nahm die Last auf Mirandas Schultern zu. Das Alter, die Macht, die Majestät des Geisterhofes – all das drohte sie zu erdrücken. Und auch wenn sie sich selbst sagte, dass das nur der angestrebte Effekt war, konnte es doch den Eindruck nicht schmälern. Als sie schließlich die Kanzel erreicht hatte und die drei kleinen Stufen nach oben gestiegen war, um sich dem Hof zu stellen, konnte selbst Gins beruhigende Anwesenheit das Zittern nicht mehr zurückhalten.
»Spiritistin Miranda Lyonette.« Banages Stimme tönte von der hohen Empore herab und wurde durch die seltsame Akustik des Raumes in eine eigene, fast spürbare Entität verwandelt. »Der Geisterhof hat sich hier versammelt, um die Anklage zu hören, die Euer Standesgenosse Spiritist und Turmwächter Grenith Hern in Bezug auf die Vorfälle im Königreich Mellinor gegen Euch vorbringt.«
Banage sah auf den Mann in der vordersten Bankreihe herab. Dort saß Grenith Hern selbst, gekleidet in eine maßgeschneiderte Robe aus teurer, purpurfarbener Seide mit goldenen Stickereien. Für
Weitere Kostenlose Bücher