Legende von Eli Monpress 02 - Herr des Windes
von ihr getrennt durch eine lange Brücke, die über einen natürlichen Riss im Bergkamm führte. Die Festung lag auf einem Vorsprung im Felsen und schien förmlich über der Stadt zu schweben – eine riesige, luftige Burg mit blendend weißen Mauern und hoch aufragenden Gewölben. Doch am beeindruckendsten waren die berühmten Türme von Zarin. Insgesamt zierten sieben davon die innere Burg. Sie waren so hoch, dass sie mit ihren vergoldeten Spitzen den Himmel zu berühren schienen.
Die Festung sollte hauptsächlich aufgrund ihrer Größe beeindrucken. Sie blieb das Symbol des Rates, und ihre sieben Türme erhoben sich stolz auf jedem Goldstandard, den die Münze des Rates prägte – der riesige bürokratische Apparat jedoch, der den Thronrat am Laufen hielt, war längst über die Mauern der Burg hinausgewachsen und hatte sich in die Herrenhäuser und Stadthallen der Umgebung ergossen. In der heutigen Zeit hielten sich nur noch die Weißfall-Familie von Zarin und diejenigen Edelleute in der Burg auf, die tatsächlich geruhten, sich zu Veranstaltungen des Thronrats zu begeben.
Im fünften Stock der Innenburg, die mit jedem Luxus ausgestattet war, den Geld und gesellschaftlicher Rang kaufen konnten, trank einer dieser Männer, Edward di Fellbro, Herzog von Fron, in seinen Zimmern Tee. Bei den meisten Edelleuten – und besonders bei denjenigen, die solch reiche Ländereien wie Fron besaßen – hätte dieser Vorgang mindestens drei Diener erfordert. Doch Edward war allein und aß ruhig die letzten Reste eines bescheidenen Tellers mit verschiedenen Früchten und Brot. Er saß an einer Ecke des riesigen Esstisches, der nicht mit Körben voller exotischer Früchte und Süßigkeiten bedeckt war, sondern mit Karten.
Sie erstreckten sich fast von einem Ende des Tisches bis zum anderen. Karten von jeder Ecke der Ratskönigreiche, in verschiedenen Stilen und aus verschiedenen Epochen. Manche waren alt und abgegriffen, auf anderen schien die Tinte gerade erst getrocknet. Doch jede Einzelne von ihnen war mit denselben ordentlichen roten Zeichen markiert. Manchmal waren es Kreuze, manchmal Kreise oder Vierecke, und ab und zu sogar ein Dreieck. Doch ganz gleich, welche Form die Markierung hatte, daneben stand immer etwas in derselben ordentlichen engen Schrift, gewöhnlich eine Nummer und eine kurze Beschreibung, und immer ein Datum.
Herzog Edward starrte intensiv auf die Karten. Sein dünnes Gesicht war nachdenklich verzogen, während er einen Schluck aus seiner Teetasse nahm, nur um festzustellen, dass sie leer war. Mürrisch streckte er seine Tasse aus. Sofort watschelte eine elegante Teekanne auf vier silbernen Beinen heran, um sie wieder aufzufüllen. Die Kanne zitterte, während sie sich bewegte, und ihr goldener Deckel klapperte leise beim Einschenken. Der Herzog starrte die Kanne böse an, und das Geräusch verstummte. Sie verbeugte sich vorsichtig, um nicht zu kleckern, und zog sich mit einer gemurmelten Entschuldigung wieder auf ihren Platz im Teeservice zurück.
Edward bemerkte davon nichts. Er starrte bereits wieder auf die Karten. Seine Augen huschten scheinbar ohne Plan von einem Punkt zum nächsten. Seiner Haltung nach zu urteilen, hätte er noch lange so verweilt, doch ein Klopfen an der fein geschnitzten Tür störte seine Gedanken.
»Herein«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, die Verärgerung in seiner Stimme zu verstecken.
Die Tür schwang auf, und einer der Ratspagen, von Kopf bis Fuß in die lächerliche weißsilberne Uniform gekleidet, in welche die Weißfall-Familie alle Angestellten zwang, trat ängstlich in den Raum.
»Spiritist Hern möchte Euch sehen, Durchlaucht«, verkündete der Junge mit einer kleinen Verbeugung.
Edward legte seine Gabel zur Seite und schob den Teller von sich. »Schick ihn herein.«
Der Junge trat zurück, und der unerwartete Gast des Herzogs rauschte in den Raum. Rauschen war das richtige Wort. Edward hatte noch nie jemanden getroffen, der so sehr auf sein Äußeres achtete wie Hern. Der Spiritist war heute noch prächtiger gekleidet als sonst: Sein enger grüner Anzug war mit blausilbernen Stickereien verziert, die an Pfauenfedern erinnerten, und lange, spitze Ärmel mit Stulpen hingen über die großen glitzernden Juwelen an seinen Ringen.
»Ich schwöre, Edward«, sagte er und ließ sich in dem Moment, als der Junge die Tür wieder schloss, auf eine gepolsterte Bank am Fenster fallen, »deine Räume werden jedes Mal, wenn du nach Zarin kommst, kleiner.
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