Legenden d. Albae (epub)
nahm eine Schriftrolle hervor und reichte sie ihm. »Es war Timānris’ letzter Wunsch, bevor sie starb.« Raleeha hielt ihm das Pergament hin.
Starb
…
Das Wort wiederholte sich unendlich oft in seinen Gedanken. Sinthoras starrte auf das gerollte Blatt, als könnte er es mit Blicken zum Brennen bringen. Nichts brachte ihn dazu, sich zu bewegen, die Hand nach der Wahrheit auszustrecken und die Nachricht vom Ende ihrer Unendlichkeit mit eigenen Augen zu lesen.
Starb
…
Schließlich war es Caphalor, der das Pergament an sich nahm; dabei berührte er wie zufällig die schlanken Finger der Sklavin. »Sinthoras?«
»Ich will es nicht lesen«, sagte er heiser und wich vor dem Alb zurück.
Caphalors Antlitz wurde traurig. Die Erinnerungen an den eigenen Verlust schienen ihn heimzusuchen, ohne dass er sich zu wehren vermochte. »Du kannst es nicht ungeschehen machen«, sagte er leise und mitfühlend. »Sie ist tot, Sinthoras.«
»Lies du es«, ächzte er und nahm einen Becher, goss sich Wasser ein und trank es hastig. Es versickerte in seinem heißen Mund, in seiner ausgetrockneten Kehle, ohne in seinen Magen zu gelangen.
»Es ist an Euch gerichtet, Gebieter«, meldete sich Raleeha vorsichtig zu Wort.
»Schweig!«, schrie er sie an. »Ich vertraue Caphalor!« Er schwankte, musste sich am Tisch abstützen. Der Verlust der Geliebten wurde immer fassbarer, stand drohend vor ihm und wurde durch die Worte, die aus dem Mund des Albs drangen, Wirklichkeit.
Was tue ich nun
?
Sinthoras verstand lediglich einzelne Wortfetzen, war zu aufgewühlt.
Timānris schrieb ihm, wie sehr sie ihn liebe, dass die erlittenen Verletzungen jedoch nicht mehr zu heilen wären. Die Endlichkeit stünde bevor. Sie verlangte von ihm den Schwur,niemals mehr nach Dsôn zurückzukehren, wo alles an ihren Tod erinnerte. Er solle sich diese Seelenschmerzen ersparen. Seine Zukunft läge in Tark Draan, wo er sein eigenes Reich gründen sollte. Sie vertraute ihm Raleeha an, die ihr eine gute Freundin geworden sei. Eine Schwester.
»Unsere Seelen gehörten einst zusammen«, trug Caphalor die Botschaft der Toten vor, »nun sind sie getrennt. Ich lasse dich ziehen, Geliebter. Erinnere dich meiner, doch fessle dich nicht an mich. Behüte Raleeha, die ich freigegeben habe, und sie wird dir eine hingebungsvolle Begleiterin sein.« Er ließ das Blatt sinken und legte es auf den Tisch. Mitfühlend betrachtete er den bleichen Alb, dann schaute er zu Raleeha, unter deren Binde die Tränen hervorrannen.
Nach einer Weile trat er zu Sinthoras, drückte ihm den Oberarm. »Sie hat recht. Höre auf sie und tue, was sie von dir möchte. Auch ich habe nicht vor, in die Heimat zurückzukehren.« Er suchte den Blick des Albs. »Der Schmerz und die Trauer verbinden uns. Wir werden Tark Draan unsere Qualen spüren lassen.«
Was bleibt mir noch
? Sie ist weg. Verschlungen von der Endlichkeit.
»Das werden wir«, gab er krächzend zurück, die Hände zu Fäusten geballt. Mit einem Schrei trat er den Tisch um, auf dem das Blatt lag. »Wir werden angreifen. Heute noch!« Er stürmte an ihnen vorbei ins Freie und brüllte Befehle, bis er heiser war. Fanfaren und Trommeln verkündeten seinen überraschenden Entschluss.
Caphalor atmete tief ein und betrachtete die einstige Sklavin, die unsicher am Eingang stand. »Du hast mit einer anderen Reaktion gerechnet?«
Sie neigte den Kopf. »Ich warte darauf, dass man mir sagt, was ich zu tun habe. Auch wenn ich frei bin, muss ich vor den Augen der anderen die Sklavin mimen.«
»Deine Aufgabe ist dir von Timānris klar gegeben worden:Du wirst bei ihm bleiben.«
»Ich vernahm keinerlei Schwur aus seinem Mund«, antwortete sie fest. »Noch hat er den letzten Willen seiner Geliebten nicht erfüllt.«
Caphalor horchte auf. Der Tonfall verriet, dass sie enttäuscht war, aber dennoch umspielte ein angedeutetes Lächeln ihre Lippen, das sie zufrieden wirken ließ.
Weil sie wieder an Sinthoras’ Seite sein darf
? Oder
…
Der Wortlaut des Briefes erschien ihm auf einmal verdächtig. Begriffe wie Schwester und Begleiterin wären das Letzte, was eine Albin in Verbindung mit einer Barbarenfrau gebrauchte,
Künstlerin hin oder her. »Wie verlief der Unfall?« Er ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen und unterdrückte die alten Gefühle für sie.
Ich halte Enoïla über ihren Tod hinaus die Treue.
Raleeha wandte ihm das Gesicht zu, als könnte sie ihn sehen. Richtig und wahrhaftig sehen. »Wie meint Ihr das, Herr?«
»Ich
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