Legenden der Traumzeit Roman
Großmutter.
Die alte Frau starrte darauf, und eine Weile herrschte Schweigen. Als sie das Gehäuse öffnete und die Bilder auf der Innenseite sah, stieß sie einen bebenden Seufzer aus. Ihre Augen schimmerten vor Tränen, als sie Hina wieder anblickte. »Du hast Lianni zu uns zurückgebracht. Der Kreis hat sich geschlossen.«
Er küsste die beiden. »Die Geschichte geht nie zu Ende – nicht so richtig –, denn Liannis Geist lebt in uns allen weiter, und wenn Puaiti und ich unseren ersten Sohn bekommen, werde ich ihn Jon nennen.«
Die beiden älteren Frauen nickten, ihr Stolz auf ihn war ihnen deutlich anzusehen. Er ließ sie mit ihrem Schatz allein und machte sich auf die Suche nach seiner Frau.
Eden Valley, März 1856
»Wird Finn jetzt unser Daddy?« Violet würde in drei Monaten sechs werden, doch Ruby wunderte sich über ihre reife Direktheit.
»Ja, bald«, murmelte sie und bemühte sich, die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Lesebuch zu lenken.
»Dann kommt mein anderer Daddy nicht mehr wieder.« Das war eine Feststellung, keine Frage, und Violet musterte ihre Mutter mit festem Blick aus blauen Augen.
Ruby zögerte. Ihr war es peinlich, so ausgefragt zu werden, aber schließlich erübrigten sich auf diese Weise endlose Erklärungen und Halbwahrheiten. Sie schüttelte den Kopf.
»Gut.« Violet drückte Nathaniel mit triumphierendem Lächeln an sich. »Hab ich dir doch gesagt.«
»Kommt meine Mama denn zurück?«
Ruby schaute in die dunkelbraunen, bekümmerten Augen, und es schnitt ihr ins Herz. Natjik war ein ruhiges Kind, doch dieser Umstand war wahrscheinlich mit der Entführung seiner Mutter und Duncans tiefem Schweigen zu erklären. »Nein, Schatz«, sagte sie leise und legte ihm eine Hand an die Wange. »Ich glaube nicht.«
Der kleine Junge gab kein Geräusch von sich, während ihm langsam die Tränen über das Gesicht rannen. Ruby hob ihn auf, auch ihr kamen die Tränen, und ihr Herz trauerte um die entführten Kinder und ihre Mutter und den verstörten kleinen Jungen, der zurückgeblieben war. Obwohl sie wiederholt an den Gouverneur geschrieben hatte, hatten sie von Garnday und Mookahnichts gehört. Sie schienen einfach verschwunden zu sein, wie Kreide von einer Tafel fortgewischt und vergessen.
»Schon gut, Natjik«, sagte Violet, die seit der Entführung sehr weichherzig geworden war. »Du darfst meine Mummy mit mir teilen.«
Ruby zog sie an sich und küsste ihr feuriges Haar. »Natürlich darf er das«, brachte sie heraus, obwohl ihr ein Kloß im Hals saß.
Am Ende gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten und die Kinder mit einer Naturkundelektion im Freien abzulenken. Sie ließ sich von ihnen die Namen der verschiedenen Vögel sagen, als Duncan auf sie zukam. Er wirkte entschlossen.
Natjik lief zu ihm, und Duncans Miene wurde weicher. Er zerzauste dem Jungen das Haar. »Zeit, dass ich meinen kleinen Jungen mit nach Hause nehme.«
»Es ist noch früh, und wir sind mit unserem Unterricht noch nicht fertig.« Sie nahm ihn prüfend in Augenschein. »Aber so hattest du es nicht gemeint, oder?«
Er schüttelte den struppigen Kopf. »Hier ist es nicht sicher, weißt du, und der Kleine wird an diesem Ort zu oft an etwas erinnert.«
»Willst du nach Schottland zurück?«
»Ja, Mädel. Hier hält mich nichts mehr, und ich habe den Nebel und die Heide der Highlands schon zu lange vermisst.«
Der Versuch, ihm das auszureden, wäre zwecklos, denn seit Kumalis Verschwinden hatte sich in Eden Valley eine Veränderung vollzogen. Eine Veränderung, die das Gleichgewicht störte, die an jedem Tag eine Leere hinterließ und sie ermahnte, dass nichts für die Ewigkeit war. Wie viel schlimmer musste es dann erst für diesen ruhigen, freundlichen Mann sein! »Du wirst mir fehlen«, sagte sie seufzend, »ihr beide werdet mir fehlen, aber ich verstehe, warum du weggehen musst.«
»Der kleine Tommy ist ein prima Kerl, und er wird die Tiere gut versorgen. Ich habe keine Bedenken, ihm die Verantwortungzu übertragen.« Er sah auf den Schäferhund, der neben ihm stand, und legte eine Hand auf den weichen Kopf. »Ich möchte um Erlaubnis bitten, Bess mitzunehmen. Sie ist eine treue Hündin, und ich glaube, sie wird sich vor Gram verzehren, wenn ich sie hierlasse.«
»Natürlich darfst du das.« Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Hast du genug Geld, Duncan? Der Preis für die Überfahrt ist hoch, und du wirst für Natjik ein Zuhause einrichten müssen, euch ernähren und einkleiden, bis du eine neue
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