Legenden der Traumzeit Roman
hatten ihr die Kinder genommen – hieß das, die Geister konnten sie nicht zurückgeben? Sie blickte durch den Stacheldraht, Verstand und Herz kämpften miteinander.
Ihre Hoffnung wuchs, als sie das Grundstück betrachtete. Die gubbas bewachten das Tor nicht, patrouillierten nicht am Zaun entlang, denn dahinter erstreckte sich meilenweit Wüste – das große Never-Never –, und keine heilige Stätte in Tibooburra. Sie schaute zu den Sternen auf, dann wieder auf das Haus der gubbas . Das Tor war hoch, doch sie konnte es leicht überwinden. Mit klopfendem Herzen stand sie auf, sah in den Himmel und wartete.
Eine Wolke schob sich vor den Mond, und Kumali begann zu klettern. Es dauerte lange, und gerade als sie ein Bein oben über das Tor schwang, tauchte der Mond wieder auf und überflutete die Landschaft mit Licht. Sie erstarrte, wartete auf den Ruf, das Spannen eines Gewehrhahns.
Alles schlief, die Stille der großen Wüste hüllte sie ein.
Sie kletterte hinunter, schneller jetzt, ihr Atem kam in flachen Stößen, und sie stürzte beinahe in ihrer Hast. Da sie wusste, dass alles verloren wäre, wenn sie sich verletzte, atmete sie tief durch und bremste sich, bis sie den Boden erreicht hatte. Sie hatte es geschafft.
Keuchend legte sie sich hin und betrachtete die endlose Weite der Wüste. Karlwekarlwe lag weit hinter dem Horizont, und sie hatte keine Ahnung, ob sie es je finden würde. Ihr blieb nichts anderes übrig als zu beten, dass sie die Kraft und den Mut hatte, so lange zu überleben.
Tahiti, März 1856
Ungeduldig wartete Hina an Deck, während das Schiff näher ans Ufer segelte. Er genoss den Anblick, der sich ihm bot: Sein Volk strömte über den Strand zu den Einbäumen. Musik schwebte über das Wasser, und er konnte die Blüten und den Rauch der Feuerstellen riechen. Endlich war er zu Hause.
Die Einbäume legten längsseits an, Männer und Frauen kletterten an Bord, und er suchte eifrig nach Puaiti. Und da war sie, schön wie eh und je. Leise rief er sie beim Namen, und sie hielt inne.
Ihre mandelförmigen Augen weiteten sich, und ihr Gesicht strahlte, als sie in seine Arme stürzte. »Hina! Endlich bist du wieder da!«
Sie wieder festzuhalten war wie ein Traum, und er schwelgte im Duft ihres Haars, der Blüte, die hinter ihrem Ohr steckte, und ihrer weichen Haut. »Es ist so lange her, meine Puaiti. Ich hatte schon Angst, du würdest nicht auf mich warten.«
Sie zog sich aus der Umarmung zurück und schaute zu ihm auf. »Mein Vater hat versucht, mich mit vielen Männern zu verheiraten, mit denen er Handel treiben will, aber ich habe sie alle abgelehnt. Er ist sehr wütend auf mich, doch ich habe ihm gesagt, ich will nur dich heiraten, meinen Hina.«
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er zog sie wieder an sich. Er hatte in der Furcht gelebt, sie verheiratet und mit mehreren Kindern vorzufinden, doch nun konnte er aufatmen, denn sie hatte bewiesen, dass ihre Liebe und ihr Glaube an ihn wahrhaftig waren.
Sie küsste seine Lippen und schmiegte seufzend den Kopf an seine Brust. »Aber er wird nicht zulassen, dass ich dich heirate, wenn du die versprochene Brautgabe nicht hast, Hina. Wir werden diese Insel verlassen müssen, wenn wir zusammen sein wollen, und das wird mich traurig machen.«
»Ich habe die Brautgabe, Puaiti«, sagte er leise. »Noch heute Abend werden wir verheiratet sein.«
Mit strahlenden Augen schaute sie ihn an. Sie küssten sich noch einmal, denn es bedurfte keiner Worte mehr.
Hina wurde bei seiner Rückkehr ins Dorf mit viel Musik und Gesang begrüßt, und seine Mutter fing und schlachtete ein Ferkel zu Ehren seiner Hochzeit mit Puaiti. Die Feier mit Essen und Tanz und einer Menge Rum dauerte bis in die Nacht hinein. Hina sehnte sich danach, endlich mit seiner Braut allein zu sein, doch er musste noch etwas tun, bevor der lange Tag zu Ende war.
»Ich muss mit meiner Mutter und meiner Großmutter sprechen«, sagte er leise, »und dann gehen wir in die Hochzeitshütte.«
Sie zog einen hübschen Schmollmund, küsste ihn und ließ ihn gehen.
Hina fand die Frauen in ihrer gemeinsamen Hütte, wo sie den letzten Rum tranken und das Fleisch aufaßen. »Großmutter, Mutter, ich habe euch ein Geschenk mitgebracht.«
»Deine Rückkehr ist Geschenk genug, mein Sohn«, sagte seine Mutter.
»Aber es ist ein besonderes Geschenk, und ich gebe es euch beiden, weil ich weiß, dass ihr es in Ehren halten werdet.« Vorsichtig packte er die Uhr aus und legte sie in die Hand seiner
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