Lehmann, Christine
gegen die Regeln zu verstoßen, und mit dem Mord an Torsten war sie s i cherlich nicht einverstanden gewesen. Nur hatte sie sich da längst vollständig in Butchers Hand befunden. Er hä t te sie vernichten können, so wie er Torsten vernichtet hatte. Und sie war doch schwanger. Das war ein zusätzl i cher Grund für sie gewesen, um ihr Leben zu fürchten. Man hätte ihr Fragen gestellt, sobald offenbar geworden wäre, dass sie ein Kind erwartete. Leslie hätte glauben können, dass er auch sie töten müsse, bevor sie Antwort gibt.
»Ich denke«, wisperte Abdul, »Yanqiu hat tatsächlich zunächst die Absicht gehabt, sich vor uns allen mit dem vergifteten Saft zu töten. Doch als du sie dann beschu l digt hast, hat sie plötzlich begriffen, dass das ihre Re t tung ist. Der Countdown lief schon, man würde sie mit dir und den anderen nach unten schicken. Leslie würde keine Gelegenheit mehr bekommen, sie zu töten, sie und das Kind. Vier oder fünf Mann haben sie bewacht, als sie in der Cupola angekettet war. Solange sie sich Mörderin nennen ließ, war sie in Sicherheit.«
Deshalb hatte sie sich also bei mir bedankt!
»Immerhin«, stöhnte ich, »ist auch Butchers Rechnung nicht aufgegangen. Er hat bestimmt geglaubt, Yanqiu würde den Freitod wählen, wenn ich mit dem Finger auf sie zeige und sage: Das ist die Mörderin von Torsten.«
»Ja, du hast sie gerettet!«, sagte der Pakistani zärtlich.
»Und du hast dich gerettet, indem du zugegeben hast, einen falschen Alarm ausgelöst zu haben, damit Chatu r vedi ins Nirwana eingehen konnte.«
Abdul lächelte müde.
»Aber die anderen, Abdul! Vielleicht sind sie jetzt alle tot!«
Er schüttelte den Kopf. »Das wüssten wir. Wir hatten ja Funkverkehr mit der Artemis. Und die Bodenstationen auch. Und solange wir nichts sagen und Leslie nicht u n ter Druck gerät …«
»Aber wir müssen die Besatzung warnen.«
»Keine E-Mail, kein Telefongespräch geht an David vorbei. Er und Leslie kontrollieren letztlich die gesamte Kommunikation mit den Bodenkontrollstationen.«
»Aber keiner von beiden kann so gut Russisch. Und Oberst Pilinenko ist durchaus in der Lage, seinen Ko m mandanten unschädlich zu machen.«
»Falls er uns glaubt. Dir oder mir. Und selbst dann wird er es sich gut überlegen, ob er die Waffe auf einen Amerikaner richtet. In dreieinhalb Wochen kehren die meisten planmäßig zur Erde zurück, auch Butcher, mit seinen zwei Rekorden. So lange wird auch Yanqiu schweigen.«
»Aber wir können doch nicht einfach zuwarten.«
Abdul lächelte traurig. »Wir müssen sehr klug sein, Cyborg! Sehr klug! Das Leben der Artemis-Besatzung hängt von dem ab, was wir sagen … oder nicht sagen.«
»Aber Jockei hat mir Torstens Original-Flashcard ab genommen.«
»Wer?«
»Er ist der Vorsitzende des Mond-Clubs.«
Abduls Stirn verfinsterte sich. »Wenn er die Karte weitergibt, werden die Spezialisten bei der ESA oder NASA die geheimen Dateien finden.«
Wenn! Es schien mir zweifelhaft, vermutete Jockei doch ganz andere Geheimnisse. Oder irrte ich mich? War Jockei doch besser informiert, als ich dachte? War das der eigentliche Inhalt meiner geheimdienstlerischen Mi s sion gewesen? Torstens per Telefonat nach Ratzenried angekündigte Beweise für den Skandal geheimer Lie b schaften und Medikamentenabhängigkeit des Rekord-Kommandanten Butcher auf die Erde holen! Wenn es so war, dann hatten Jockei und Gunter Maucher immer vermutet, dass Torsten ermordet worden war.
»Umso besser!«, sagte ich. »Die ESA-Leute werden die versteckten Informationen auf Torstens Karte an Roskosmos weitergeben, und die werden Artjom irgen d wie instruieren!«
Abdul schüttelte den Kopf. »Sie werden nichts unte r nehmen. Sie werden sich an die NASA wenden.«
Schwarz lag die Nacht hinter dem Fenster. Eine Fliege summte gegen die Scheibe. Ein Auto fuhr vorüber und jagte Scheinwerferreflexe über die weiße Wand des kle i nen Zimmers.
63
»Wird man je einen Schifffahrtsdienst durch den Wel t raum einrichten, der für das Sonnensystem nützlich sein wird? … Wird eine Verbindung den Besuch jener Sterne ermöglichen, die wie Ameisen am Firmament wi m meln?« Reise um den Mond, Jules Verne, 1869
Um halb fünf in der Frühe saß ich hinter Brontë s Le n ker und versuchte die seltsamen sich nach oben verjünge n den schwarzen Bahnen mit den weißen Streifen für etwas zu halten, was eine höhere Geschwindigkeit als achtzig erlaubte, während mein Handy sich am Zigarettenanzü n der
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