Lehmann, Christine
hatte ich nicht wenigstens mit einer Verband s schere auf Jockei eingestochen? Warum hatte ich auf der Pressekonferenz nichts gesagt? Ein lähmender Mondei n fluss? War doch was dran an all dem Humbug? Oder brauchte meine Identität einfach den zerkratzten Hol z tisch in meinem Habitat mit den Kneipenstühlen, dem Fernseher auf der Kiste, den Bücherkisten an der Wand entlang, dem Orientteppich und dem Kleiderschrank im tanzsaalgroßen Badezimmer und der kochfremden K ü che, damit auch die Rachegelüste wiederkamen? Eins a me Gewaltfantasien!
Ich stellte mein Handy an und schob die obersten Ze i tungen vom Stapel auf dem Tisch. Je tiefer ich in die Vergangenheit drang, desto mehr zitterten mir die Finger. Montag!
Mein Handy verlangte die Pin. Ich vertippte mich.
War eine Explosion auf einem Flugplatzfest in Obe r schwaben dem Stuttgarter Anzeiger, den ich erst kürzlich wieder abonniert hatte, nicht einmal ein Fünfzeiler auf der ersten Seite wert gewesen? Wenn das so war, musste ich die Zeitung sofort wieder abbestellen und den Che f redakteur ohrfeigen! Vier Tote und keine Schlagzeile? Ein Stuttgarter Staatsanwalt unter den Toten! Und keine Zeile?
Mein Handy meldete: »Sie haben zwölf neue Nac h richten.«
Erst die Zeitung, dann das Handy oder umgekehrt? Jetzt zitterten nicht mehr nur meine Hände, sondern me i ne Augen. Sally hatte mir gesimst, die T-Mobile hatte gespamt, drei Anrufe von der Redakteurin der Sonntag s zeitung. Und ziemlich am Ende der Reihe und am chr o nologischen Anfang: » Cipión bei Sally. R.« Mit Akzent auf dem O. Immer korrekt!
Wie? Was? Wo?
Ich stürzte aus der Wohnung die Treppen hinunter, hätte beinahe Oma Scheible über den Haufen gerannt und stürmte die Straße. Mein Verstand kam so schnell nicht mit, aber wozu brauchte ich ihn auch? Er flatterte einen halben Meter hinter mir her, als ich die Urbanstr a ße hinaufrannte, und fing mich erst wieder ein, als ich bei Sally unten an der Haustür klingelte.
Wie wundersam vertraut das war: Häuser, Straßen, Autos, fremde Menschen, der Duft nach Kaffee von i r gendwo, der geschaffige Gestank von Autoabgasen, das Gedröhn des Berufsverkehrs ein paar Straßen weiter.
»Ja!«, tönte nach einer Weile eine verschlafene Sti m me aus der Intercom, nein, aus der Gegensprechanlage.
»Ich bin ’ s, Lisa. Lässt du mich rauf?«
»Lisa!«, kreischte der Lautsprecher. »Verdammt, wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
Ein Summen löste das Türschloss. Ich stolperte in die ersten Stufen. Achtzig Stück erwiesen sich als Zumutung für mondleichte Beine und eine verteerte Lunge. Wie lange würde es dauern, bis ich mich mit meinem Gewicht wieder versöhnt hatte?
»Sag mal …« , empfing mich Sally mit wirren Locken im Nachthemd mit Snoopy-Bildchen und nackten Be i nen. »Um die Zeit!«
Da quetschte sich etwas zwischen ihren Waden durch und schlitterte auf den Treppenabsatz, schlappohrig und kurzbeinig, rau das Fell und haselnussig der Blick, au s gestattet mit einer patschnassen Schlappzunge, ein Bü n del Begrüßungsfreude der unaussprechlichen Art.
» Cipión ! Du Schlawiner, du Lump! Dass ich dich wiedersehe!«
»Leise!«, zischelte Sally. »Nebenan, der schafft beim Theater, der braucht seinen Schönheitsschlaf! Jetzt komm halt rein!«
Sie stopfte uns in den schmalen Flur und machte die Tür zu. »Und was fällt dir ein«, legte sie los. »Seit zehn Tagen weiß keiner, wo du steckst, ob du tot bist oder en t führt oder was weiß ich. Übrigens, du siehst scheiße aus, weißt du das? Wo warst du eigentlich?«
»Auf dem Mond.«
»Das ist nicht witzig. Lisa! Weißt du, was für Sorgen wir uns gemacht haben? Nein? Warum hätten wir uns Sorgen machen sollen? Du hast dich ja vergnügt. War es das wert, dass du dafür alles stehen und liegen lässt und Cipión vergisst? Sally wird sich schon um den Köter kümmern, sie kann ja nicht Nein sagen bei den Viechern. Und jetzt?« Sie musterte mich mit Kopfkissenmuster auf der Backe und verschmierter Wimperntusche vom Vo r abend.
Ich versuchte zu lächeln. »Hör mal, ich bin wirklich …«
»Ich will nichts hören!« Sie drehte um und schlappte in die Küche. Das Nachthemd schwänzelte um ihre ru n den Waden. Senta lag auf der Decke an der Heizung, zu faul und zu alt, um aufzustehen. Immerhin klopfte sie mit dem Schwanz ein paarmal auf den Boden. Sally lehnte sich gegen das Fensterbrett und zündete sich eine Zig a rette an.
»Und nun?«, fragte sie.
»Was für einen Wochentag haben wir
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