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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nachtkrater
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heute?«
    »Donnerstag. Du warst zehn Tage weg, Lisa. Spurlos verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Richard ist schier gestorben vor Sorge.«
    »Richard ist …« Ich schluckte. »Tot!«
    »Quatsch! Er ist in Wien auf irgend so einer UN- Tagung zum Weltraumrecht oder so.«
    Ich versuchte es vernünftig zu begreifen. »Und Susa n ne und die Kinder?«
    »Wer ist Susanne? Welche Kinder?« In Sallys von Schlaf und Wimperntusche verschmierte Augen trat ein mitfühlendes Blitzen. »Hat Richard etwa was mit dieser Susanne?«
    »Sie sind bei einer Hubschrauberexplosion beim Flu g platzfest in Wallmusried ums Leben gekommen.«
    »So? Und wann soll das gewesen sein?«
    »Am Sonntag vor zehn Tagen, Sally, an dem Vormi t tag, als man mich entführt hat. Richard ist mit Susanne, Luca und Diana in den Hubschrauber gestiegen, Juana ist mit Cipión und ihren Großeltern am Boden geblieben. Und ich … ich musste aufs Klo. Vom Klofenster aus h a be ich gesehen, wie der Hubschrauber explodiert ist, und im selben Moment hat man mir K.-o.-Tropfen gegeben.«
    »Ja, klar! So wird es gewesen sein. Sicher!« Sally rauchte. »Deine Storys waren auch schon mal besser, Lisa. Wenn ein Hubschrauber explodiert, das hätte man doch mitgekriegt. Das wäre in den Nachrichten geko m men. Aber du brauchst mich gar nicht anzulügen. Du bist erwachsen, du kannst machen, was du willst. Ich bin nicht deine Mutter.«
    »Aber ich lüge nicht!«
    »Nein, du lügst nie, ich weiß!« Sie öffnete das Fenster und aschte in den Aschenbecher, der draußen auf dem Fensterbrett stand.
    »Das habe ich nicht gesagt!«
    »Was wolltest du mir dann sagen?«
    »Ich hab ’ s vergessen.«
    Normalerweise lachte Sally irgendwann, aber diesmal nicht. Es war ernster. Leider war es mir im Moment egal. Ich hatte viel zu viel damit zu tun, mein geistig-seelisches System den neuen Bedingungen anzupassen, die eigentlich die alten waren. Es hatte sich tatsächlich nichts verändert. Die Erde hatte sich kein bisschen wei te r gedreht, vermutlich hatte nicht einmal ich mich verä n dert. Warum auch. Mondstaub war zwar aggressiv und kle b rig, aber nicht halluzinogen.
    »Vielen Dank für alles, Sally«, sagte ich. »Aber jetzt muss ich los. Richard ist in Wien, sagst du?«
    »Kann sein. Er ist mir ja keine Rechenschaft schu l dig.«
    »Sally, ich erkläre es dir ausführlich, wenn ich wieder zurück bin und wir mehr Zeit haben, ja? Cipión , komm!«
    Sie blieb am Küchenfenster stehen, mit hochgezog e nen Brauen und einer »Wenn du jetzt gehst, brauchst du dich nie wieder blicken zu lassen«-Miene.
    Egal jetzt. Morgen würde ich es wiedergutmachen. Morgen oder übermorgen!
    Der Dackel wedelte an der Tür, die Schnauze an der Ritze, damit er auch gewiss der Erste war, der hinau s kam, sobald sich die Tür öffnete. Ich klemmte ihn mir untern Arm und rannte die achtzig Stufen hinunter.

64
     
    »Kein Mensch kann zum Mond fliegen, ohne sich ir gen d wie zu verändern, nachdem er in einem tiefen Tal mit dem Blick auf den hohen Mons Vitruvius gestanden hat, über dem daumengroß die Erde schwebte, der Planet u n serer Existenz.« Eugene Cernan (Apollo 17, 1972) in: Fro m the Earth to the Moon, 1998
     
    Vielleicht hätte ich doch umkehren sollen, dachte ich. Das war ich Sally schuldig als Freundin, aber achtzig Stufen! Und außerdem, Freundinnen mussten warten, wenn es um einen Mann ging.
    Gegen zehn befand ich mich auf der Autobahn hinter München. Wie lange dauerte eigentlich so eine UN-Konferenz? Doch sicher keine vierzehn Tage, auch keine zehn Tage. Vielleicht hätte ich ihn anrufen sollen. Aber was sagte man, wenn die Stimme des Toten sich im Mo bi l lautsprecher materialisierte? »Schön, dich zu hören! D a mit hatte ich gar nicht mehr gerechnet.« Oder was?
    Bei Freising stockte der Verkehr. Bis Passau flutschte es wieder. Die Donau rutschte unter uns hinweg. Nebel und Niesel hingen in den Bergen über Passau. Nie wieder werde ich über irgendein Wetter klagen. An der Ausfahrt zur Rastanlage gab es Gebremse bis zum Stillstand.
    Da war mir plötzlich, als hätte ich Richards Daimler gesehen, wie er eben aus dem Beschleunigungsstreifen der Rastanlage gegenüber auf die Heimwegfahrbahn schoss: Scheinwerfer schräg wie Katzenaugen, schnell, verschwiegen, diplomatendunkel und schon weg.
    Ich riss Brontë s Lenker herum und röhrte aus dem Staustand in die Ausfahrt zur Rastanlage Passau, hielt vor den Toiletten und nahm mein Handy. Normalerweise telefonierte ich beim Fahren, aber

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