Lehrerkind
früher oder später dafür. Sei es, weil sie selbst die Geschichten, die die Eltern im Lehrerzimmer verbreiten, vor versammelter Klasse wiedergeben oder weil sie sich nicht entblöden, die persönliche Korrespondenz zu überbringen (O-Ton meines Grundschulklassenlehrers: »Bastian, deine Mutter hat mir eben diese Einlagen gegen Schweißfüße mitgegeben, sie sagte, du hast sie heut Morgen im Flur vergessen.«). Die Standleitung der Eltern zum restlichen Lehrkörper führt natürlich auch dazu, dass sich keine schlechte Note oder Tadel verstecken lässt, meist sind die eigenen Eltern noch vor einem selbst über eine vergeigte Klausur informiert und dementsprechend sauer. Die Demütigung ist der engste Freund des Lehrerkindes der Stufe 3, sein ewiger, hinter jeder graugelb gestrichenen Klassenwand lauernder Begleiter, der sich, solange die Eltern an der gleichen Schule tätig sind, nicht von seiner Seite löst.
It’s My Party
Der haarige Katzenfresser Alf starrte mich irritiert von einer gräulichen Schicht aus hart gewordener Sahne an. Eine Kerze war wie ein Kopfschuss in seine Fontanelle getrieben worden, der schmale Docht brannte langsam ab und war kurz davor, sich in seine braune Stirn zu fräsen. Auf meiner Stirn hingegen prangte ein dösiges Hütchen, dessen Gummiband unten in mein Gesicht einschnitt und aus meinem Doppelkinn ein Triplekinn machte.
»Los, wünsch dir was«, sagte mein Vater und deutete auf Alfs Rübennase. Ich blies die Kerze aus, die wie ein Fallbeil umstürzte und den fröhlichen Besucher vom Planeten Melmac in zwei Teile riss. Es war mein siebter Geburtstag, der erste Geburtstag seit meiner Einschulung. Seltsamerweise war aus meiner Klasse jedoch niemand anwesend, stattdessen war ich umzingelt von einer Horde teilnahmsloser Nachbarskinder, die mich sonst beim Versteckenspielen gern für mehrere Stunden im Schuppen einsperrten. Heute aber war mein Ehrentag und ich demzufolge mit einer zeitlich begrenzten Immunität gegen Grausamkeiten aller Art ausgestattet. Ich wäre zwar in der größten Not nicht auf die Idee gekommen, diese halbfertigen Heimsuchungen über unsere Schwelle treten zu lassen, aber die Einladepolitik meiner Eltern basierte auf dem Prinzip der »offenen Tür«. Dieses Prinzip beruhte auf der Erinnerung, Teil der 68er-Studentenbewegung gewesen zu sein und solidarisch einfach jeden einzuladen, ob er jetzt mit mir befreundet war oder mich einfach nur im Wochenrhythmus vermöbelte. Die meisten Kinder aus meiner Klasse verzichteten allerdings von sich aus auf den Besuch, weil sie um den sonderbaren Jungen mit der Lehrermutter, die täglich wie eine Sirene kreischend auf dem Schulhof stand, einen großen Bogen machten. Und deshalb saß jetzt ein eher kleiner Kreis von Nachbarskindern an unserer mehr schlecht als recht geschmückten Kaffeetafel und schwieg sich an. Selbst mit einem fünfzigjährigen Travestiekünstler namens Lady Lysistrata hätte ich mehr Gesprächsthemen gefunden, als mit dieser Supergroup von Schnullerpsychopathen. Meine Mutter hatte extra an ihrem neuen »Heimcomputer« eine Einladungskarte gestaltet, auf der sich eine Katze und eine Maus unter einer Girlande zuprosteten. Symptomatisch.
An der Stirnseite saß Thomas Löffler, ein Junge mit plumpem Körper und tumbem Blick. Ich glaube, er war nur gekommen, weil seine Eltern bei einem Auswärtsspiel waren und er irgendwie beschäftigt werden musste. Thomas’ Dasein ließ sich relativ leicht auf eine Vokabel herunterbrechen: Schalke. Seine Eltern waren Ultra-Fans, ihr Leben folgte starr dem hohlen Rhythmus von Heim- und Auswärtsspielen, sonst gab es nichts von Interesse. Thomas war immer in Blau-Weiß gekleidet, die blau-weißen Adidas-Sportschuhe bildeten die Basis für seine stämmigen Beine, die in einer kurzen blau-weißen Hose steckten. In diese Hose wiederum war ein blau-weißes Trikot gestopft, das im Winter mit einer blau-weißen Mütze mit blau-weißem Bommel komplettiert wurde. Ob Thomas jetzt ein Paradebeispiel für »Lernen durch Beobachtung« abgab oder seine Mutter während der Schwangerschaft nur zu oft am Bierwagen umgefallen war, konnte man nicht sagen, der Junge war jedenfalls so dumpf im Scheitel wie ein Ziegelstein. Ein Ziegelstein war auch der einzige Grund für seine Einladung: Thomas Löffler hatte nämlich einen solchen nach mir geworfen. Knapp verfehlt. Immerhin. Jedenfalls war ich heulend heimgelaufen, hatte meiner Mutter den Vorfall geschildert – und meine Mutter hatte den
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