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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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christlichen Erziehung leiden, in der Spaß unter Strafe stand und die eigentlich wie ein Petrischale für Irrsinn war.
    Trotz alledem war Moritz ein netter Kerl, er war so entstellt, dass selbst die meisten Klassenschönlinge ihn in Ruhe ließen. Ebenso wenig wie sie seine Feinde waren, waren sie dann allerdings auch seine Freunde. Moritz hatte Angst vor Wasser und vor Höhe, was in Anbetracht der Tatsache, dass er gleich aus einer beachtlichen Höhe in einen Bottich voll Wasser springen sollte, zu einem bemerkenswerten Heulkrampf führte.
    Ich absolvierte die Sprünge relativ gelassen, Frau Morrigs Radar der Unbarmherzigkeit hatte noch nicht registriert, dass ich bei allem, was ich tat, nur halbe Kraft fuhr, dass jeder Zug durchs kalte Wasser mir eigentlich leichter fiel, als ich angab, und dass ich ganz bewusst lieber Zweiter wurde als Erster. Ich wollte einfach nicht im Fokus dieser seelischen Trümmerhalde stehen, ich wollte von Frau Morrig nicht bemerkt und am Ende noch zur Teilnahme an Schwimmwettbewerben gezwungen werden.
    Moritz kraxelte die bierkastenhohe Steigung zum Einmeterbrett hoch, als würde er gerade ohne Sauerstoffgerät den K2 besteigen. Seine Storchenbeine wackelten, die kleine Beule in seiner Hose schrumpfte auf Molekülgröße, und seine aschfahle Haut wechselte ihren Ton in ein vornehmes Königsblau. Der Junge hatte nicht nur Furcht, nein, er hatte das Maximum an Angst, das man einem so zerbrechlichen Figürchen wie ihm überhaupt zumuten konnte. Moritz wandte seinen Kopf in jede Richtung der Schwimmhalle, es wirkte, als würde er einem Kolibri folgen, der betrunken Schlangenlinien flog. Die restliche Schwimmklasse ging in monotones Klatschen über, halb teilnahmslose Anfeuerungsgeste, halb Erwartung, dass der verbaute kleine Junge dort oben gleich explodieren würde vor Angst.
    Dann sprang er, und die wenigen Kilogramm, die sein schmaler Körper auf die Waage brachte, schnitten nicht durch die Luft, nein, er schwebte wie eine menschgewordene Decke die anderthalb Meter bis zur Wasserfläche hinab, die ihn dann mit einem spröden »Plopp« verschlang. Dasselbe passierte auf dem Dreimeterbrett, Frau Morrigs starrer Blick harrte wie ein Raubtier auf Moritz’ blanker Brust, sein Atem ging steil auf und ab, bevor er sich schreiend in die Tiefe stürzte und dabei seine Nase zuhielt.
    Dann folgte der Fünfmeterturm, und auch wenn die Steigerung der Höhe noch einmal dieselbe war, schien sich irgendetwas an Moritz Piepenkötters Bewusstsein geändert zu haben. Da, wo ihn vorher noch Trotz und ein wenig Hoffnung zum Absprung bewegt hatten, war jetzt blanke Panik in seinem Gesicht. Irgendwann auf den metallenen Leitersprossen war offenbar die Grenze überschritten worden, die Moritz sich und seinem zerbrechlichen Selbstbewusstsein zutraute.
    Jetzt stand er da oben, schob sein Gesicht zwischen seine Hände und weinte bitterlich, sein Schluchzen prallte an den kahlen Wänden der Schwimmhalle ab und vervielfachte sich zu einem hohlen, toten Echo. Meine Mitschüler, deren Geheimrezept zur Ermutigung anderer einfach die Erhöhung des Klatschrhythmus war, riefen jetzt einfühlsam: »Spring, Moritz, spring!«
    Doch Moritz sprang nicht, es war ganz offensichtlich, dass seine Angst soeben seinen Mut erdrosselt hatte und nun langsam dabei war, ihn ganz in Beschlag zu nehmen.
    Frau Morrig schritt nicht ein, sie hätte hochklettern können, um das kleine, entmutigte Bündel Rotz und Wasser dort herunterzuholen, doch sie hielt es wohl für angebrachter, noch einmal ihr Riegelmantra zu wiederholen.
    »Moritz, keine Angst, es passiert schon nichts … Denk immer an das Milky Way, wie leicht es ist, es ist so leicht, es schwimmt sogar auf Milch. Sei wie das Milky Way, Moritz!«
    Ich weiß nicht, ob ich zu viel Wasser geschluckt und mir dabei die Gehirnzellen gechlort oder ob das eiskalte Wasser irgendetwas in mir geweckt hatte, jedenfalls sprang ich plötzlich auf, mein schwammiger Körper begann dabei im Takt des Klatschens der anderen zu schwingen. Dann watschelte ich zu Frau Morrig, riss ihr die bescheuerte Stoppuhr aus der Hand und schmiss sie auf den Kachelboden, wo sie zu einem Sammelsurium von Schräubchen und Glasteilen zerbarst.
    Das Klatschen verstummte, die Zeit stand für einen Moment still, nicht nur weil ich gerade die Uhr getötet hatte.
    Dann fing ich an zu schreien und beendete meine Karriere als Schwimmstar, bevor sie jemals ausreichend von mir verhindert worden war. Seit ein paar Wochen, vielleicht

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