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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Rest des anwesenden Publikums wurde entweder sofort taub oder zeugungsunfähig. Der gemeinsame Blick auf die Uhr, Gesten der Bekreuzigung, beginnendes Schielen und ähnliche Symptome waren bei einigen Zuhörern zu verzeichnen, dieses Konzert war für Schwangere und Säuglinge definitiv ungeeignet.
    Im Zentrum dieser Apokalypsenpolka stand Herr Remser, zu Recht mit dem Rücken zum Publikum, und war sagenhaft stolz auf seine Musiker. Der geneigte Leser mag jetzt vermuten, dass Herr Remser wohl von Musik so viel verstand wie Kojak von Haarschnitten, doch weit gefehlt. Herr Remser war ein begnadeter Musiker, er spielte jedes der Instrumente, die vor den Augen des Publikums der Vernichtung zugeführt wurden, mit bewundernswerter Brillanz, selbst aus der Triangel streichelte er noch mehr Töne, als der Klavierknödler Fabian Schmitt aus seinem gesamten Keyboard.
    Nachdem das Schulorchester von einer Welle der klatschenden Entgeisterung getragen den Saal verließ, fand der nächste Programmpunkt statt: die »Shitties«. Die Band spielte, so hatte es Herr Remser im Programmheft vermerkt, »heiteren Progressivrock mit sozialkritischen Untertönen«.
    Was auch immer sie Herrn Remser bei den Proben als ihr »Programm« vorgestellt hatten, hier beim Musikfest gab es nun eindeutig die Uncut-Version für Hartgesottene. Das Quartett war nicht angetreten, um Zuschauerherzen zu sammeln, vielmehr ging es darum, dem versammelten Bildungsbürgertum mal den Spiegel der Sozialverwesung vorzuhalten.
    Moritz Brandstetter betrat in seinem Ramones-T-Shirt die Bühne, die Augen nur schemenhaft unter einem Wust an Haaren erkennbar, und murmelte seine Begrüßung: »Dieser Song geht an euch Wohlstandsmütter und Establishment-Menschen, wir sind die Shitties, und das nächste Stück heißt ›Fickt das System‹«.
    Was folgte, kann durchaus als Traktat zur Spaltung der Gesellschaft angesehen werden. Jeder im Saal wurde von den Shitties in diesem achtminütigen Gewaltstück persönlich beleidigt, ob es jetzt die Eltern in den karierten Hemden waren, die zu Hause eine Armee aus Billy-Regalen und Nadelholzmöbeln stehen hatten und nun mit einem Camcorder das Flötenspiel von Torben und Ole festhalten wollten, oder der dickliche Chefarzt mit dem Businesslächeln, der seiner Johanna versprochen hatte, er werde auf jeden Fall dabei sein, wenn sie die Nationalhymne auf der Bratsche intonierte. Jeder bekam seine musikalische Darmspülung verpasst. Auch für detaillierte Diffamierungen des Lehrkörpers blieb den Shitties noch Platz in ihrem Opener. Jedem Lehrer wurde genau eine Zeile purer Verachtung gewidmet, der Direktor verbrannte in Gedanken wahrscheinlich schon Moritz Brandstetters Abiturzeugnis.
    Der Refrain, »Ihr seid alle vergiftet«, klang wie eine charmante Aufforderung zum Gruppensuizid und ließ einige der Eltern nervös auf ihre halb ausgetrunkenen Becher mit Fruchtbowle starren. Die Eltern der Shitties, selbst offensichtlich Mitglieder dessen, was Kulturwissenschaftler die »bildungsnahe Mittelschicht« nennen, senkten ihre zuvor herausgeholten Kameras und saßen mit offenen Mündern da.
    Dass die Veranstaltung nicht damit endete, dass sich Moritz Brandstetter mit einem Eimer Tierblut übergoss, war nur Herrn Remser zu verdanken, der vorsorglich den Vorhang auf die Bühne fallen ließ, als Moritz sich anschickte, seine Hose zu öffnen.
    Jetzt konnte nur noch eine Geheimwaffe helfen, um dieses Desaster in einen knappen Sieg nach Punkten zu verwandeln. Herr Remser belohnte die Zuhörer mit ein paar Minuten Pause, während im Hintergrund die Shitties noch ein paar wahllose Beschimpfungen gegen den Vorhang warfen, die wie ein dumpfes Klopfen beim Publikum ankamen.
    Nach einiger Zeit schob sich der Vorhang wieder zur Seite und dahinter kam nun ein Wesen zum Vorschein, das verdächtig nach einem ganzkörperenthaarten Samson aus der Sesamstraße aussah. Es stand allein im fahlen Scheinwerferlicht, die Silhouette seines Körpers ragte als turmhoher Schatten an der Wand hinter ihm empor, der salzige Geschmack eines Gladiatorenkampfes lag in der Luft.
    Dann öffnete das Wesen seinen Mund und tauchte den gesamten Saal in einen solch samtigen Klangteppich, als hätte man die Wände mit purer Glückseligkeit gestrichen.
    Das Wesen war ich, der Missing Link zwischen Quarkspeise und Knabenbusen, ein gelebtes Plädoyer für alle Randgruppen, das Kind, dem die Einsamkeit jeden Monat Bekennerschreiben schickte.
    Mein Auftritt war überraschend, denn ich

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