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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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war das Zentralbad Gelsenkirchen, eine Schwimmanstalt, deren nüchterner Name nur von ihrer nüchternen Wirklichkeit übertroffen wurde. In dem Ambiente dieser eiskalten Einrichtungskatastrophe fühlten sich wahrscheinlich nicht einmal die Fußpilzerreger wohl. Vom Boden bis zur Decke in 20 Metern Höhe weiß gekachelt, machte das Zentralbad beim Betreten den Eindruck, als könnte hier jeden Moment eine Wagenladung altersschwacher Kühe zersägt werden. Stattdessen warteten aber nur die erbarmungslosen Adleraugen von Frau Morrig auf uns, eine Wagenladung unwilliger, schwimmunfähiger Schüler.
    Frau Morrig war ein wenig wie der böse, verhärmte Zwilling meines Sportlehrers Schmitz, sie lachte nie, stattdessen kam immer, wenn eines der Kinder mal wieder hilflos auf den Beckenrand zustrampelte, nur ein metallisches, kühles Husten. Frau Morrig war dreimalige Seniorenweltmeisterin im 50-Meter-Kraulen, nebenbei hielt sie wohl auch den Rekord für die meisten filterlosen Zigaretten pro Stunde. Sie war der lebende Beweis, dass nicht nur männliche Sportlehrer Sadisten waren. Ihre Haut war einem gelben Pergament gewichen, aus dem ein paar stumpfe Zähne der Welt kalt entgegenbleckten. Wie sie ihre sportlichen Leistungen zustande brachte, obwohl ihre Lunge vermutlich mehr Teer enthielt als Helmut Schmidts Scheitel, bleibt wohl auf ewig ihr Geheimnis. Frau Morrig war so verbittert und kalt, vielleicht hatte der Krebs einfach keine Lust auf sie. Wenn sie ein Herz hatte, dann war es eine schwarze Wurzel aus Nikotin und Kaffeesatz, die sich wie die Hand des Teufels in ihrer Brust festkrallte.
    Das Unheil eines jeden Schwimmunterrichts begann in den Umkleidekabinen, in denen ein trüber Dunst aus Bohnerwachs, billigem Deodorant und Chlor wie unter einer Käseglocke gefangen hing. Kein Junge in der unfertigen Phase zwischen zehn und 18, während derer sein Körper eigentlich wöchentlich zu einer neuen Abstrusität mutiert, hat Lust, sich vor anderen auszuziehen, erst recht nicht im fahlen Licht einer einsamen Neonleuchte, unter der selbst Naomi Campbell wie eine Wasserleiche wirken würde. Jeder von uns klappte seine Spindtür als Sichtschutz zur Seite, versuchte sich dahinter von seiner Kleidung zu befreien und in die Badesachen zu schlüpfen.
    Der einzige Junge, dessen Glied nicht mehr wie ein verkümmerter Rest Nabelschnur an den Körper gepappt war, Thomas Moorenbecker, zeigte dies auch stolz und zog sich immer in der Mitte des Raums um, während alle anderen beschämt und unzufrieden über die eigene Unfertigkeit ihre Köpfe in die Spinde steckten. Da in den Spinden meist ähnliche Lichtverhältnisse herrschten wie in einem Maulwurfspo, war der Versuch, sich fast blind aus- und anzukleiden, meist von absurden Choreografien gekrönt. Alle wackelten wie eine Gruppe Königspinguine mit dem Kopf im Spind hin und her, manche fielen um, andere blieben stehen und bewahrten sich einen Rest Würde. Ich gehörte zu der ersten Gruppe.
    Der einzige Lichtblick nach dieser Ankleidungskatastrophe bestand darin, dass wir auf die Mädchen trafen, deren Anblick im Universum eines Dreizehnjährigen, in dem Mädchen eine widersprüchliche Position einnahmen, eine kurze, stille Freude erregte. Alle Jungs aus unserer Klasse, außer diesem verdammten Thomas Moorenbecker, befanden sich am Scheideweg vom Kind zum Mann, der Körper war eine Großbaustelle, das Fertigstellungsdatum lag noch in weiter Ferne, man stellte gerade die ersten Gerüste auf das Fundament. Klapprig schoben sich zu lange Arme aus den Hühnerbrüsten, Andeutungen eines schwarzen Damenbärtchens umspielten die Oberlippen mancher muslimischer Mitschüler, und die meisten von uns hatte der Stimmbruch schwer gezeichnet, es klang, als würde eine schwerhörige Blaskapelle einen Song von Metallica in unseren Kehlen proben.
    Wir hassten die Mädchen, weil sie anders waren, sie interessierten sich nicht für Fußball, Autos und schon gar nicht für Wrestler. Und sie waren größer als wir.
    Na ja, eigentlich interessierte ich mich auch nicht für Fußball und Autos, selbst Wrestling hatte seine Faszination verloren, außerdem war ich der einzige Junge, der größer als die Mädchen war. Ich hatte aber über die Jahre gemerkt, dass es besser war, so zu tun, als würde man Interessen mit den anderen teilen. Meine Scheinidentität verlangte zwar, dass ich mich wöchentlich auf dem Laufenden hielt, wer gerade in der Bundesliga Tabellenführer war, doch das war immer noch besser, als

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