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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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war es die Pubertät, vielleicht hatten die Jahre des Fastfood und Privatfernsehens auch mein Angstempfinden zersetzt, war ich von einer eigenartigen Furchtlosigkeit getrieben.
    »Frau Morrig, das ist doch der letzte Mist hier, sehen Sie denn nicht, dass Moritz Angst hat? Wir haben alle Angst, Angst vor Ihnen, Ihren Ansprachen und Ihren absurden Weltvorstellungen. Das Leben ist kein bescheuerter Wettkampf, es geht nicht darum, Erster zu sein und am Ende auf dem Treppchen zu stehen. Es geht darum, alles so zu schaffen, wie man es kann, das Beste zu geben, das man hat. Und wenn man nicht mehr hat, dann hat man eben nicht mehr.
    Und hören Sie endlich mal mit Ihrem blöden Milky Way auf, nur weil das auf Milch schwimmt, müssen wir das nicht, außerdem ist das hier nicht Milch, sondern ein eiskaltes Klärbecken … Milky Way ist so leicht, das schwimmt sogar auf Milch … Scheiße schwimmt auch auf Milch, und jetzt? Sollen wir jetzt alle so leicht wie Scheiße sein?«
    Frau Morrig feindete mich mit ihren leeren Augen an, als würde sie gerade exhumiert. Ich konnte nicht feststellen, ob eines meiner Worte zu ihr vorgedrungen war, wenn es so war, ließ sie es sich nicht anmerken.
    Plötzlich erschallte neben uns ein lautes Klatschen. Moritz Piepenkötter hatte es gewagt, war ins Ungewisse gesprungen und nun unter einer Decke aus blauem Wasser verschwunden.
    Als er auftauchte, brachen meine Mitschüler in frenetischen Jubel aus, Moritz grinste, als wäre er gerade zum Kanzler gewählt worden, und selbst Frau Morrig, wahrscheinlich von mir ein bisschen bräsig geredet, rang sich ein kleines Lächeln ab.
    Leider hatte Moritz seinen neuen Mut nicht seinem Schließmuskel mitgeteilt, kurz nachdem sein Kopf aus dem blauen Beton hervorschoss, tauchte neben ihm sein persönliches Milky Way auf. Geräuschlos und braun glitt das Stück Lendentorf am Beckenrand vorbei, passierte ein paar Seniorenschädel, die angeekelt untertauchten, und verschwand in einer Filterritze. Moritz hatte vor Glückseligkeit ins Becken geschissen.
     

Das Musikfest
    »A one, a two … a three and go«, zählte Herr Remser an, bei jedem Wort schwang sein fettiger Scheitel im Takt, der früher einmal Rebellion bedeutet haben mochte, jetzt aber nur noch nach Schuppenshampoo roch.
    Das »Orchester« setzte ein, Fabian Schmitt orgelte eine Tonfolge auf dem Keyboard, die im besten Fall Durchfall auslöste, Johanna Stemmberger, ein Mädchen mit dicken Oberarmen, trötete auf ihrem Horn, und Julian Weltling begann seine Geige zu foltern, er sägte das Ding fast durch, bevor auch nur ein Ton erschallte. Zum Abschluss setzte David Hoffmann an der Trompete ein. Das Dargebotene wäre nur mit gutem Willen noch als Körperverletzung durchgegangen. Eigentlich war es Mord, Mord am Instrument, Mord am guten Geschmack und Mord an der Musik. Es klang wie eine orchestrale Aufforderung zum Dschihad oder die gelungene Vertonung einer Vorhautentfernung.
    Herr Remser sprang während der Darbietung konstant auf und ab, sein Taktstock zuckte wie eine Wünschelrute hin und her und schien das Einzige zu sein, was diese geigende Kastrationskapelle überhaupt noch in Schach hielt. Was für ein Lied gerade gespielt wurde, ließ sich allein dem Programmheftchen entnehmen, das Herr Remser und Frau Remser-Büttiger in Heimarbeit angefertigt hatten und in dem euphemistisch die »Sensationen« des heutigen Abends angepriesen wurden.
    Herr Remser leitete jetzt schon zum zwölften Mal unser alljährliches Musikfest, und bisher war der Abend immer mehr oder weniger im Chaos geendet. Warum er sich diese Tortur für Ohren und Hirn über einen solch langen Zeitraum immer wieder antat, ist wohl nur damit zu erklären, dass er zu der idealistischsten aller Lehrergruppe gehörte: Er war mit Leib und Seele Musiklehrer.
    Der Ablauf des heutigen Abends war eisern geplant und strukturiert. Zuerst spielte das Schulorchester unter Remsers Leitung ein paar Stücke von Smetana, danach sollte eine Band auftreten, die sich den passenden Namen »The Shitties« ausgesucht hatte. Wir waren gerade bei der Moldau angekommen, an der Stelle, wo im Original die malerische Landschaft umschrieben wird, die der Fluss auf seinem Weg durch Böhmen durchfließt. Das Dargebotene klang jedoch eher wie die musikalische Verlaufsbeschreibung eines Müllkippenrinnsals.
    Die Eltern der Orchestermitglieder lächelten unseren musikalischen Dünnpfiff trotzdem stolz weg, manche dirigierten sogar mit ihren Fingerspitzen mit. Der

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