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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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täglich gehänselt zu werden. Wöchentlich reichte mir.
    Frau Morrig stand schon wie ein Obelisk am Beckenrand, ihr kurzes, stumpfes Haar schoss wie Unkraut aus ihrem Kopf, sie hielt ihren besten Freund in der Hand, die Stoppuhr. Dieses blanke Stück Plastik entschied über die Zukunft, über Noten, ja über das ganze weitere Leben. So war es jedenfalls in unseren Köpfen, Frau Morrig war Vertreterin der These, dass Angst Macht bedeutet, und sie machte uns wöchentlich wirklich große Angst, wenn sie ihren zweiminütigen Anfangsmonolog hielt.
    »So meine Lieben, schön, dass ihr wieder alle da seid, heute wollen wir Turmspringen üben, wir beginnen bei einem Meter, dann zwei Meter und zum Abschluss fünf Meter. So ist das Leben auch, erst beginnt ihr mit kleinen Herausforderungen, dann folgen größere, und am Ende schafft ihr selbst die größten Ziele. Und wie im Leben ist es auch jetzt so, dass die, die es nicht schaffen und meinen, sie könnten sich auf den Erfolgen der anderen ausruhen, keine Chance haben und nicht weiterkommen werden. Ganz einfach, wenn ihr hier nicht alles gebt, wenn ihr im Leben nicht immer alles gebt, dann geht ihr als grauer Durchschnitt in der Masse unter. Die Menschen wollen keine Verlierer oder den Durchschnitt, ihr werdet einfach an den Rand gedrängt werden, durchgekaut und ausgespuckt. Anscheinend habt ihr das Prinzip ja schon verstanden, sonst wärt ihr nicht auf dem Gymnasium. Das ganze Leben ist ein Wettkampf, ein Wettschwimmen, keiner interessiert sich für den Zweiten, nur der erste Platz zählt, und genau das erwarte ich von euch: dass ihr den ersten Platz erreicht. Denkt einfach immer daran, dass ihr sein müsst wie ein Milky Way, das ist so leicht, es schwimmt sogar auf Milch.«
    Die Ansprache hätte auch gereicht, um eine Horde Wikinger in Kampfeslust zu versetzen, vor den paar mülltonnengroßen Gestalten, die Frau Morrig bibbernd in der klirrenden Kälte der Schlachthofatmosphäre gegenüberstanden, wirkte die Nummer einfach nur maßlos überzogen. Besonders der letzte Satz, den sie wahrscheinlich auf einem Pädagogiklehrgang der Volkshochschule Bielefeld gehört hatte, passte so gar nicht in ihre sonstige romantisch verklärte Schlachtenphilosophie. Vielleicht wurde Frau Morrig von der Süßwarenindustrie geschmiert, vielleicht dachte sie auch, dass wir Kinder Gleichnisse, die sich auf aktuelle Werbespotslogans bezogen, besser verstehen würden. Ich hatte längst mit allen Wettkampfgedanken abgeschlossen, ich hatte nie irgendeinen Wettkampf gewonnen, und ehrlich gesagt hätte ich es, selbst wenn ich gekonnt hätte, auch nicht gewollt. Dieses ganze Strampeln für eine dösige Medaille und einen feuchten Handschlag der toten Hand Frau Morrigs, das war es nicht wert, wenn, dann hätte ich höchstens die Mädchen beeindrucken wollen. Das wäre bei meinem Anblick allerdings selbst bei sportlichen Höchstleistungen schwer geworden, über meinem kleinen Badehosendreieck zeigten sich schon die ersten Anzeichen meines späteren Wohlstandbauchs, und da, wo die anderen sportlichen Jungs wenigstens ihr Rippenxylophon zeigen konnten, befand sich bei mir nur blasse Haut, schlaff über den Körper geworfen wie ein fleischfarbener Schlafsack. Schwimmen lag mir eigentlich von allen Sportarten am meisten, hier waren meine offensichtlichen Defizite, dass ich riesig, ungelenk und dezent fett war, am besten abgepuffert.
    Es gab einige, denen es bedeutend schlechter ging, Moritz Piepenkötter, zum Beispiel, ein Junge, dessen winziger Körper von einem riesigen Kopf gekrönt wurde, auf dem eine Frisur Platz fand, die wohl von einem blinden Hinterhofbarbier im Suff kreiert worden war. In Wirklichkeit verpasste Moritz’ Mutter, eine tiefgläubige Frau, die mit einem Küster verheiratet war, der ein so ernster Mann war, dass er Lachen als Krankheit empfand und sich im stillen Kämmerlein manchmal selbst ohrfeigte, ihm regelmäßig diesen Haarschnitt. Moritz war rein optisch eine Mischung aus Prinz Eisenherz und dem schielenden Löwen Clarence, wobei er sich mit Letzterem nicht nur den Haarschnitt, sondern auch die Fehlstellung der Augen teilte, weshalb er unentwegt auf die Spitze seiner weit vorragenden Nase starrte. Alles in allem eine arme Wurst. Wo andere wie ich noch die Hoffnung hatten, durch den Messias Pubertät wenigstens etwas Männlichkeit geschenkt zu bekommen, würde Moritz für den Rest seines Lebens unter seinem Silberblick, dem Wasserkopf und den Auswirkungen seiner streng

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