Lehrerkind
war seit meiner Kindheit mit einer bemerkenswerten Talentfreiheit gesegnet gewesen, mein einziges Talent war vielleicht, dass ich zu nichts Talent hatte. Ich war sportlich wie ein Mettbrötchen, und auch meine künstlerischen Fähigkeiten waren eher unterentwickelt. Ich konnte eigentlich nichts, aber das richtig. Hätte es einen Guinnessbuch-Eintrag für das umfangreichste Scheitern gegeben, wäre daneben ein Foto von mir abgedruckt gewesen, wie ich mir gerade fast ein Brotmesser ins Auge rammte. Ich war wie das Negativ eines Gewinners, der undeutliche Schatten des Unglücks, und egal was passierte, man durfte davon ausgehen, dass ich immer nur knapp überlebte, um die Schmach meiner Niederlage noch auskosten zu können.
Ich war 14 Jahre alt, hatte nie eine Prügelei gewonnen, nie ein Mädchen bekommen, und auch meine Eignung als Orchesterpianist war sehr fraglich.
Eigentlich hatte Herr Remser während der ersten Musikstunden sofort erkannt, was für ein grobmotorischer Halbaffe da in der ersten Reihe in geistiger Agonie herumdümpelte, und mich folgerichtig mit dem einzigen Instrument ausgestattet, mit dem die Gefahr der Selbstverletzung relativ gering war: Klanghölzer. Diese bräunlichen Buchenfurnierstäbchen sahen ein wenig wie Nashornzäpfchen aus und gaben bei jedem Zusammentreffen den gleichen, dumpfen Klopflaut von sich, den sonst nur die Schulschläger auf meiner klopsigen Schädelplatte erzeugen konnten. Während die anderen Kinder mit Flöten, Gitarren, Geigen und Posaunen ausgestattet wurden, stand ich, der Klangholzvirtuose, in der letzten Reihe und machte zu »Alle Vögel sind schon da« genau drei Mal ein hohles »Klock«. Das war entwürdigender als mein Schulbesuch in Pumucklunterhose.
Auch meine kurze Teilnahme an der Saxofon AG war nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Erst kauften meine Eltern mir für unvorstellbare 200 Mark ein gebrauchtes Saxofon, hörten sich geschlagene drei Wochen an, wie ich Laute irgendwo zwischen Nutzviehschlachtung und Kleinkindexorzismus erzeugte, und gaben mir dann noch einmal 200 Mark, damit ich versprach, das Saxofon nie wieder anzufassen.
Doch in meiner eigentlich universalen Unfähigkeit verbarg sich ein Talent, und Herr Remser hatte es durch Zufall entdeckt. Ich konnte singen. Entgegen meiner eigentlichen Stimmlage, die mit ihrem Lispeln und dem zu hohen Tonverlauf immer klang, als wollte ein Kastrat Kermit den Frosch imitieren, hatte ich eine glockenklare Singstimme. Wenn ich das »Ave Maria« anstimmte, wurde dem Priester warm unter dem Talar und der Organist fiel vom Stuhl.
Herr Remser betrachtete mich für diesen Abend als seine Geheimwaffe, seine V1-Rakete zur Stimmungsrettung, falls alles, so wie er es von den vorherigen Musikabenden gewohnt war, schieflaufen würde.
Nun stand ich da und fing todesmutig an zu singen. In der ersten Reihe konnte ich hinter den aufragenden Videokameras schemenhaft meine Eltern erkennen, meine Mutter hatte ihre Hände betend unters Kinn geschoben, mein Vater unterstrich die einzelnen Sätze im Programmheft und suchte nach Rechtschreibfehlern.
Ich sang »Let it be« von den Beatles, die generationsübergreifende Hymne, den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Musikhörer. Das kalte Licht des Spotlights umschloss mich, und in meinen Schuhen stand vor Aufregung der Schweiß. Doch mein Gesang war perfekt. Jeder Ton saß, mein Timbre war makellos, die wochenlangen Proben ließen sogar vergessen, dass mein Englisch hundsmiserabel war.
Und dann plötzlich passierte es, mein alter Freund, das Versagen, war zurückgekehrt und griff mit seiner kalten Hand in meine Brust. Ich wollte gerade aus voller Kehle den Refrain intonieren, als meine Stimme auf und ab zu wabern begann. Das »Let it be« entwich meiner Kehle als astreiner Hirschpaarungslaut.
Mit einem lauten »Hchrrrröm« entleerten sich meine Stimmbänder, als würde ich den gesamten Songkatalog der Beatles auf einmal nachrülpsen. Nichts war mehr übrig von der glockenklaren Reinheit meiner Singstimme. Meine Mannwerdung hatte mich plötzlich und unerwartet auf stimmlicher Ebene eingeholt, nachdem sie zuvor in keinem anderen Teil meines Körpers während der Pubertät auch nur eine Stippvisite vorgenommen hatte. Meine Stimmbänder bekamen ein Säurepeeling, und das mal wieder zum ungünstigsten Moment.
Die angenehme Stille der Begeisterung verwandelte sich in eine beklemmende Geräuschlosigkeit, als hätte sich gerade die Kanzlerin bei der Neujahrsansprache eingenässt. Ich
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