Lehrerkind
Schweine sicherlich schon gegessen«, flüsterte ich meiner Mutter zu, und sie musste lachen.
Jeff war Ingenieur, Donna arbeitete am Schalter einer Fluglinie. Kein Vergleich zu den Victoria’s-Secret-Models von Aeroflot, dachte ich, während langsam das Haus der Lokosimovs am Horizont verschwand. Mein Vater hatte einen Reiseführer aus seiner Tasche geholt und spickte die nächsten paar Kilometer unserer Fahrt mit uninteressanten Details über die nichtexistente Landschaft, während Ivan auf dem Frontsitz saß und rauchte.
Lehrer zu sein, ist kein Beruf, sondern Berufung, sagte mein Vater oft und machte dies auch zu seiner goldenen Lebensregel. Ohne Didaktik kam kein Urlaub mit ihm aus, nicht mal eine Fahrt über die A40 wurde ohne geschichtliche Hinweise und Anekdoten durchgeführt. »Die A40 wurde ursprünglich schon 1926 gebaut, jaja, da staunst du, Bastian, nicht wahr.«
Eine Lasterfahrt durch die geschichtsträchtige Ebene des Don-Deltas sollte da keine Ausnahme machen: »Da drüben seht ihr den größten Fluss der Region, meine Lieben, den Don. Der Don ist insgesamt 1870 Kilometer lang und mündet im Asowschen Meer«, bebilderte mein Vater den silbrigen Streifen, der in der Entfernung eine lange, baumlose Ebene durchkreuzte.
»Aha«, sagte meine Mutter gelangweilt, eigentlich waren wir schon froh, wenn mein Vater keinen ellenlangen Monolog über die Herkunft des Husumer Protestschweins hielt, wie er es bei der Besichtigung eines Bauernhofs an der dänischen Grenze mal getan hatte.
»Was heißt denn hier ›Aha‹, dieser Fluss ist von prägender wirtschaftlicher und geschichtlicher Bedeutung, Ingrid«, empörte sich mein Vater. Meine Mutter war immer noch verkatert und übellaunig, sie zog sich ihre Kappe tief unter die Augen und murmelte eine Beschimpfung, die mein Vater bewusst ignorierte.
»Ivan, können wir uns das Flussufer mal anschauen«, fragte er und deutete mit dem Finger aus dem Sehschlitz des Transporters. Ivan jedoch hatte Besseres mit uns vor und blickte sich nur kurz um, spuckte ein genervtes »Späääter« in den Laderaum und gab Gas.
Eine Ewigkeit später – ich war inzwischen weggenickt, die Nacht neben Alexejs Inhalatorjukebox war kurz und unruhig gewesen – wachte ich auf.
Die Klappe des Lasters öffnete sich quietschend, zuerst sprangen Dschäff und Donner heraus, was die Stoßdämpfer mit einem zufriedenen Ächzen kommentierten. Mein Vater krabbelte ebenfalls aus dem Gefährt, schaute sich um, orientierte sich und stieg wieder ein.
»Ist wohl nur eine Pinkelpause, hier ist nichts«, sagte er knapp, doch hinter ihm rief Ivan unüberhörbar: »Rooobert«.
Ein paar Bäume und eine kleine, verlassen wirkende Hütte lagen vor uns in der Steppe. Sonst nichts. Es sah ein wenig aus wie das frühere Urlaubsziel eines Kolchoseführers, mittlerweile im Zustand der akuten Zersetzung.
Jeff und Donna begannen aufgeregt umherzulaufen. Ihr Fotoapparat klickte im Sekundentakt, die unscheinbare Szenerie wurde in das milchige Licht unzähliger Kamerablitze getaucht.
»Sehr verehrte Damen und Herren, sehr verehrte Gäste von Chikatilo Tours, Sie stehen hier vor dem Haus, in dem Andrej Chikatilo seine weltbekannte Serie begann …«, spulte Ivan routiniert seinen Text herunter.
Wieder klickte der Fotoapparat, Jeff und Donna liefen durch die trostlose Kulisse und bekamen sich vor Begeisterung kaum ein. Die beiden Amerikaner verstanden zwar offensichtlich kein Wort, schienen aber mehr über diesen gruseligen Ort zu wissen als wir.
Mein Vater stemmte die Hände in die Hüften und fuhr mit seinem Blick die lange, ereignislose Ebene ab, die sich vor uns auftat, in einiger Entfernung konnte man die spitze Silhouette der Großstadt Rostow erkennen.
»Was denn bitte für eine Serie?«, erkundigte ich mich leise bei meiner Mutter, die ihren Kopf aus der Ladeklappe des Lastwagens streckte und dem Blick meines Vaters über die gähnende Leere des Terrains folgte.
Es ging eindeutig nicht um das russische Flugzeug-Dallas, hier war weit und breit kein Ölimperium, keine Luxusvilla zu sehen, auch kein Saddam Wickert, der diabolisch vor einem Höllenfeuer lachte.
»In diesem Haus begann Andrej Chikatilo die Mordserie, die ihn der Welt als ›Schlächer von Rostow‹ bekannt gemacht hat«, moderierte Ivan munter weiter.
»Mordserieeee?«, kreischte meine Mutter aus der offenen Ladeklappe.
»Mordserie?«, murmelte mein Vater nachdenklich. Allmählich wurde ihm klar, dass die Christi-Geburts-Kathedrale
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