Lehrerkind
doch zu viel Angst vor den russischen Krankenhäusern.
So hatte ich mir meinen Sommerurlaub nicht vorgestellt. Ich wollte doch nur ein paar Palmen, ein bisschen Strand und frittiertes Essen bis zum Brechdurchfall! Stattdessen bekam ich einen Pädagogenvater im Kulturmodus, eine Mutter, die zeitweise haarscharf am Nervenzusammenbruch entlangschrappte, und einen Reiseführer mit Waffentick und Kohlsuppe. Ich nahm mir vor, es meinem Vater heimzuzahlen. Dass sich sehr bald eine Gelegenheit dazu bieten würde, wusste ich jedoch noch nicht.
Die Armee der Lazarettschwestern
Der Tag der Rache war schon wenig später gekommen. Wir waren in Schachtys Bildungskaderschmiede zu Gast, deren Räumlichkeiten vor dem Fall des Eisernen Vorhangs wahrscheinlich eine Borschtschfabrik beherbergt hatten. Mein Vater stellte sich hinter das Lehrerpult und setzte seine Miene für staatstragende Reden an das Volk auf. Das Volk bestand in diesem Fall aus 16 Nachtwagenschaffnern und 17 Lazarettschwestern aus der Zarenzeit, jedenfalls waren das die ersten Assoziationen, die mir beim Anblick der russischen Schüler kamen. Alle trugen zum Festtag unseres Besuches ihre ehemaligen Schuluniformen aus der Sowjetzeit. Die Jungen hatten dicke Filzanzüge an, die Mädchen trugen schwarze Kleider mit weißer Spitze und riesige cremefarbene Bommel auf dem Kopf, die an Baisertörtchen erinnerten. Es sah ein wenig so aus, als wäre ein Bataillon Bergmänner mit Folkloretänzerinnen aus dem Schwarzwald zur Blitzhochzeit genötigt worden, der ganze Klassenraum war mit Lametta und glitzernden Girlanden bedeckt, in ihrer Mitte standen ich und mein Vater wie zwei graue, archaische Obelisken.
Mein Vater hielt eine Rede auf Russisch, die Kinder nickten synchron wie betrunkene Wackeldackel zu jedem Wort, das er sprach. Sergej Lokosimov stand an der Seite und schaute die Klasse ermahnend an. Das, was mein Vater dort zum Besten gab, schien sehr erheiternd zu sein, nach jedem Satz fing die Klasse an zu klatschen und zu lachen, vielleicht lag es auch daran, dass Sergej stets das passende Signal gab, indem er selbst anfing zu lachen und zu klatschen, wenn mein Vater einen Satz beendet hatte.
Während des Völkerverständigungsmonologs fiel eine Girlande fast lautlos von der Wand, das brüchige Gemäuer war kaum in der Lage, eine Heftzwecke zu halten. Ein kühler Wind pfiff durch die undichten Fensterrahmen, auf dem Boden lagen Teile der Deckenverkleidung, alles wirkte trotz der betonten Festlichkeit sehr marode. Sergej versuchte diesen Umstand zu kaschieren, indem er sich vor das riesige Loch stellte, welches in der Klassenraumwand klaffte.
Die russischen Schüler erinnerten nur entfernt an ihre deutschen Pendants, bis auf die grundsätzliche Gewaltenverteilung (Lehrer spricht, Schüler sollen zuhören) war nicht viel vom deutschen Schulsystem wiederzuerkennen. Anders als die auf den Stuhlbeinen kippelnden und gelangweilten Schüler aus meiner Heimat saßen diese hier wie stocksteife Puppen da, die Hände auf dem Tisch gefaltet und den Tornister einheitlich rechts neben dem Stuhl platziert.
Mein Vater war von so viel Zuspruch durch die Schüler selbst wohl etwas verunsichert – obwohl ich kein Wort von dem verstand, was er da mit ausladender Gestik von sich gab, merkte ich, dass seine Stimme zitterte.
Es war der vorletzte Tag unseres Russland-Urlaubs, meine Eltern sahen nach weiteren heiteren Saufgelagen bei Mamita Maja inzwischen leicht ramponiert aus. Mein Vater hatte Augenringe und war unrasiert, meine Mutter erinnerte eher an Iggy Pop als an eine deutsche Grundschullehrerin. Auch an mir hatten die 14 Tage Survivalurlaub Spuren hinterlassen: Mein ganzer Körper war mit Blessuren übersät, weil ich bei einem Jagdausflug mit Sergej und Ivan eine Böschung heruntergerollt war. Immerhin hatte ich so die armen Schweinchen verjagt, die sonst im undurchdringlichen Dickicht eines russischen Nadelwalds vor Ivans absurd großer Flinte gestanden hätten.
Jedenfalls war die Stimmung auf dem Marianengraben angekommen, ich hatte die Kommunikation zu meinen Eltern, die sich sowieso nur noch mit Ächzlauten verständigten, fast komplett eingestellt und hätte mich am liebsten den Rest der Zeit auf dem Klo eingeschlossen und auf den Abflug gewartet.
Leider gab es noch diesen letzten Programmpunkt. Sergej hatte mich und meinen Vater als deutsche Delegierte eingeladen, seine Arbeitsstelle zu besuchen, und natürlich sollten wir dort möglichst viel (dem
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