Lehrerkind
von Thon heute wohl nicht auf der Route lag.
»Ja, insgesamt 52 Opfer … besser als Chanibal Läkter«, dialektierte Ivan lächelnd und stapfte durch den schlammigen Boden vor der Hütte. Deswegen also die Gummistiefel.
Jeff machte im Hintergrund Fotos von der absurd dicken Donna, die wie ein menschgewordener Mett-Igel auf der brüchigen Veranda der Hütte posierte.
Wir waren auf einem Horrortrip mit einem irren Russen und zwei amerikanischen Katastrophentouristen gestrandet, langsam sehnte sich wahrscheinlich selbst mein Vater nach der sengenden Hitze eines ägyptischen All-inclusive-Urlaubs.
»Ingrid, bleib sitzen, wir machen da nicht mit«, wies er unwirsch meine Mutter an und setzte sich wieder auf die Ladefläche des Lasters.
»Ivan, wir möchten heim!«, brüllte er unserem Guide zu, während der immer noch auf dem matschigen Untergrund umherlief und sein Programm herunterspulte.
»Aber Sie haben noch nicht gesehen, wo Chikatilo gesäääägt hat!«
»Was hat der?«, fragte meine Mutter im schrillen Ton einer zu schnell drehenden Schallplatte. »Gesäääägt hat er, die Opfer …«
»Wir wollen heim, SOFORT«, bellte mein Vater jetzt sehr laut und nachdrücklich, unsere erste kulturelle Exkursion in Russland war eindeutig als gescheitert zu erklären. Selten hatte ich meinen Vater so entrüstet und bestimmt gesehen, Völkerverständigung war nicht mehr das Ziel. Erstaunlich mutig gegenüber jemandem, der einen Revolver in seinem Handschuhfach hatte, dachte ich und tat weiter so, als würde ich nichts mitbekommen.
Ivan blieb erst regungslos vor der Lastertür stehen, schnalzte einmal mit der Zunge und verengte seine Augen zu dunklen Schlitzen.
»Aber liebe Bielendorfers, seien Sie kein Durak, ist alles schon bezahlt …«
»HEIMWÄRTS«, brüllte mein Vater erneut. Donna und Jeff wurden wieder eingeladen und beschwerten sich in ihrem fiesen Südstaatendialekt, der klang, als hätten sie einen kompletten Brotlaib im Mund. Ivan stieg verärgert in den Laster, schlug knallend die Tür zu und fuhr los. Jeff und Donna kauten wieder Müsliriegel und zeigten meiner Mutter Fotos von ihren früheren Ausflugszielen, die sicher nicht im Neckermann-Katalog auftauchten. »Thats the place where Jeffrey Dahmer tortured people with Acid«, quäkte Donna begeistert und zeigte auf ein Foto einer verwahrlosten Wohnung. Meine Mutter nickte pikiert.
Ivans Wut stillte aber nicht seine Redefreudigkeit:
»Liebe Bielendorfers, eines aber noch zu Schluss. Raten Sie, was Chikatilo von Berruf warr!« Er schien noch immer bemüht, uns den Schlächter von Rostow schmackhaft zu machen.
»Sportlehrer!«, entschlüpfte es mir. Nach Jahren mit Teilnehmerurkunde und zu engen Leggins war Sportlehrer wirklich die einzige Berufsgruppe, der ich das Zersägen von fünfzig Menschen zutraute.
Ivan drehte sich um, schaute mich das erste Mal an diesem ganzen Tag mit einem winzigen Funken der Verunsicherung an und sagte: »Respekt! Sie haben klugen Jungen, Herr Bielendorfer. Sonst sagen immer alle Metzger oder Politiker.«
Am nächsten Morgen blieben meine Eltern lange liegen, zwar bereitete Alexej wieder seinen Leichenweckerkaffee zu, doch sie verharrten bis zur Mittagszeit auf dem muffigen Sofa und stellten sich schlafend. Als Sergej von der Schule heimkam, versuchte er die Ereignisse des Ausflugs mit ihnen zu besprechen, aber mein Vater verklausulierte seine Wut so weit, dass Sergej annahm, seine Gäste wären über den Schock hinweg. Ivan, diese joviale Mischung aus Borat und Norman Bates, hatte inzwischen versprochen, mit uns wirkliche kulturelle Kernziele zu besuchen und nicht auch noch den anderen Ausflug zu machen, den er üblicherweise seinen amerikanischen Gästen anbot. Mein Vater zeigte sich in so weit beruhigt, als dass wir nun endlich auch diese beknackte Christi-Geburts-Kathedrale zu sehen bekommen sollten.
Als wir endlich dort ankamen, gähnten meine Mutter und ich um die Wette, schöne Kirche, allerdings hatte mein Vater sich nach wenigen Minuten schon so weit in die Geschichte des Gebäudes eingearbeitet, dass man annehmen konnte, er hätte sie selbst in Auftrag gegeben. Da wurden einzelne Madonnendarstellungen verglichen, die Flöten der riesigen Orgel auf ihre Funktionstüchtigkeit abgeklopft und fachmännisch die Beschaffenheit des Bodenmaterials erläutert. Selbst Sergej war von den vielen Fragen meines Vaters überfordert, meine Mutter überlegte kurz, einen Schwächeanfall vorzutäuschen, hatte dann aber
Weitere Kostenlose Bücher