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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Mamita Maja später noch als seine Mutter heraus, ein weiterer Hinweis, dass die Frau alt genug war, um beim Letzten Abendmahl gekellnert zu haben.
     
    Das Haus wirkte von außen durchschnittlich groß, war aber innen so mit Wandteppichen zugehängt, dass man nur gebückt stehen konnte. Im Fernsehen lief eine russische Musiksendung, das Publikum des russischen Musikantenstadels hatte man anscheinend komplett auf Crystal Meth gesetzt. Eine Frau mit viel zu kurzem Rock und viel zu weitem Dekolleté ballte eine Faust in Richtung Zuschauer und litt dann tränenreich unter schlimmem Singdurchfall, ihr Köper verschwand in einem Wust aus Kunstnebel, während alle dem Menschen bekannten Instrumente gleichzeitig drei verschiedene Folkloremelodien spielten. Dann kam ein russischer Moderator, der aussah, als hätte man Ilja Richter mit einem Opossum gepaart und der inmitten seiner Moderation ganz unvermittelt lossang, während schlagartig Bilder von Tieren und Sonnenaufgängen hineingeschnitten wurden. Auch unsere russischen Gastgeber schienen einer gewissen Gefühlsduselei nicht abgeneigt – anders war es nicht zu erklären, dass Opa Alexej bei unserer Begrüßung vor Freude weinte. Der leicht biederen deutschen Seele meiner Eltern waren solche Gefühlsausbrüche nicht geheuer, ich hingegen war es gewohnt, dass die Leute weinten, wenn sie mich sahen.
     
    Dann gab es erst mal einen kleinen Begrüßungswodka, stilecht aus einem Fünf-Liter-Kanister, der griffbereit unter dem Wohnzimmertisch stand. Sergej klärte meine Eltern nach dem ersten Schluck darüber auf, dass die Stationen unseres Urlaubs schon generalstabsmäßig durchgeplant seien. Für jeden Tag gebe es eine andere, kulturelle Besonderheit. Morgen werde Ivan den Anfang machen und eine seiner beliebten Fremdenführungen durch die örtliche Hauptstadt Rostow anbieten, er sei nämlich Touristenführer, ja sogar der bekannteste und bestbezahlte Touristenführer der ganzen Region.
    »Das stimmt, der Bechanteste«, brummte Ivan, er saß etwas krumm auf einem zu kleinen Stuhl. Sein Deutsch war zwar akzentschwanger, aber deutlich verständlicher als das von Sergej. Meine Eltern beäugten den Mann, der ein paar Stunden zuvor noch stolz seinen Revolver aus dem Handschuhfach gekramt hatte, und mein Vater erkundigte sich, ob denn die von Konstantin Andrejewitsch Thon erbaute Christus-Geburts-Kathedrale auf unserer Route liege?
    »Auch …«, grummelte Ivan und verstummte. Über die restlichen Ausflugsziele schwieg er sich aus, meine Mutter warf meinem Vater erneut einen fragenden Blick zu.
    Egal, es wurde nachgeschenkt. Mein Vater hielt in einem verzweifelten Versuch seine Hand über das Glas, was Opa Alexej wohl nur als Segnungsversuch des eigenen Selbstgebrannten interpretierte, weshalb er das Glas zur Belohnung randvoll machte.
    Wir waren noch nicht wirklich angekommen, und meine Eltern schienen langsam aber sicher schon ordentlich einen sitzen zu haben. Ich bekam heimlich unter dem Tisch von Opa Alexej Wodka in mein Colaglas gekippt. Mamita Maja öffnete ihren beachtenswert zahnlosen Mund und setzte tanzend zu einem russischen Volkslied an. Im Gegensatz zur deutschen Fehlannahme, russische Folklore würde nur aus »Kalinka, Kalinka« in Endlosschleife bestehen, verwöhnte uns Oma Maja mit einer halbstündigen Ode über ihr Vaterland, zu dessen Refrain jeweils der gesamte Familienclan einstimmte. Zwischendurch durfte jeder Tischgast einen kurzen Toast ausbringen, und auch wenn wir kein Wort verstanden, schienen es doch alles sehr gefühlvolle Begrüßungen zu sein. Als die Reihe der gegenseitigen Lobpreisung bei meinem Vater angekommen war, blieb dieser erst einmal ruhig sitzen und versuchte sich vor seiner Pflicht zu drücken. Doch als sich gemeinschaftlich ein finsterer Schatten über die Gesichter unserer Gastgeber legte, zwickte ihn meine Mutter in die Seite. Er sprang auf und formulierte die denkwürdige Worthülse:
    »Ähm, äh, liebe Freunde, lieber Sergej, lieber Alexej, wird sind, ähm, sehr geehrt von so viel Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit … ähm, ja sind wir wirklich, ähm, sehr ja …«
    Plötzlich war es so still, man hätte einen Maulwurf fünf Meter unter der sibirischen Tundra furzen hören können. Der ganze Ansatz seiner Rede war für unsere Gastgeber sehr untypisch. Mein Vater stand da wie ein Kaktus am Nordpol, Opa Alexej hustete, Sergej schaute fassungslos, als hätte mein Vater gerade die russische Flagge verbrannt. Alle klatschten und

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