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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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provozierte mein Vater den ersten Beinahe-Eklat unseres Ankunftstages, indem er unsere Mitbringsel aus Deutschland (die zwar nicht ausreichen würden, um alle Familienangehörigen zu versorgen) ebenfalls den Gastgebern gleich überreichen wollte. Das war, wie man es in der bilderreichen Sprache dösiger Society-Redakteurinnen nennen würde: das »ultimative No-Go«. So als würde Paris Hilton vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf den Rasen des Weißen Hauses scheißen. Der gesellschaftliche Untergang. Dem Gastgeber in Russland ein Geschenk mitzubringen ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, ebenso selbstverständlich ist es aber auch, dass dieser die freundliche Geste des Gegenübers erst einmal mit aller Kraft ablehnt. Da wird mit den Armen gewedelt, das Gesicht zu einer lächelnden, aber bestimmten Grimasse verzogen und das Geschenk mit der ausgestreckten Hand zum Gast zurückgeschoben. Auf diese Ablehnung muss der Gast nun mit einer noch stärkeren Bestimmtheit reagieren, das Geschenk mit noch größerer Kraft in die Hände des Gastgebers schieben und das Ganze mit einem Ausfallschritt und einer Umarmung komplettieren.
    Mein Vater dagegen, in solcherlei Ritualen völlig ungeübt und durch die deutsche Eigenart geprägt, Geschenke immer mit einem Kopfnicken und Höflichkeitslächeln entgegenzunehmen, nahm das verpackte Exemplar eines Bildbands über Gelsenkirchen wieder zurück und schob es in seine Reisetasche (wahrscheinlich mit dem Gedanken, es irgendwann an Weihnachten an die bucklige Verwandtschaft zu verschenken). Die Mienen aller Anwesenden verfinsterten sich, sogar Babuschka Maja formulierte etwas, das zumindest von der Intonation her nach einer Verfluchung klang, so im Sinne von: »Dein Erstgeborenes soll Hörner und Schwanz haben.«
    Dem Erstgeborenen selbst, also mir, gelang die Völkerverständigung deutlich besser, alle minderjährigen Neffen und Nichten scharten sich um mich und meinen Gameboy, der in meinen Händen spannend piepste und tutete.
    Der rostige Laster, mit dem wir und der Geschenkehaufen abtransportiert wurden, bröckelte dann beim Einsteigen fast auseinander. Sergej machte wieder die Guillotinengeste, die mir in diesem Zusammenhang doch leicht übertrieben erschien. Der Zusammenprall mit einer Ente hätte vollkommen ausgereicht, um den Wagen zu zerreißen.
    »Vorsicht, hier viel Räuber«, warnte uns Sergej beim Einsteigen in das Gefährt und klopfte seinem Neffen Ivan auf die Schulter. Der ballte seine Fäuste und holte unaufgefordert eine riesige Handfeuerwaffe aus dem Handschuhfach, die sattsam glänzte. Leider sei die Waffe zu klein, da könne man im Ernstfall nicht viel anrichten, deshalb verstaue er sie lieber wieder im Handschuhfach, nuschelte Ivan, der neben seiner Scharfschützenausbildung anscheinend auch ganz passabel Deutsch gelernt hatte.
    Ivan erschien uns wie ein schweigsamer, schießwütiger Verrückter. Dieses Missverständnis sollte sich in den nächsten Tagen auflösen. Ivan war ganz und gar nicht schweigsam.
    Wir fuhren Richtung Schachty, eine Unzahl verwitterter Plattenbauten säumte unseren Weg.
    Als wir Sergejs Haus erreichten, das recht verloren in die Landschaft geworfen wirkte, stand Darth Vader vor der Tür. Ehrlich, Darth Vader ohne Lichtschwert und Helm, dafür aber mit außergewöhnlich viel Technik um den buckligen Leib geschnallt. So wirkte Opa Alexej jedenfalls auf mich. Der alte Mann winkte vor dem kleinen Backsteinhäuschen, trug einen schwarzen Bademantel und zog einen blinkenden Automaten hinter sich her, der auf dem unebenen Boden unsicher vor und zurück wackelte. Als wir ausstiegen, schloss der dunkle Lord sofort seine Arme um mich, wobei seine Atemmaske beschlug und ich nur sein unstetes Röcheln hören konnte. Alexej war Sergejs Vater und mein Zimmergenosse für die nächsten Tage, wie ich direkt beim Betreten des Hauses mitgeteilt bekam. Er war einer der unzähligen Minenarbeiter von Schachty gewesen, die sich in den goldenen Fünfziger- und Sechzigerjahren ihre Gesundheit tief unter der Erde ruiniert hatten, und wahrscheinlich war er einer der wenigen Privilegierten im Ort, die es sich leisten konnten, einen Kasten mit sich zu führen, der sie am Leben hielt. Jedenfalls halbwegs, Alexej schaute eigentlich einen Großteil der Zeit drein, als würde er schon vor der Himmelspforte stehen. Er bekam nur seinen blinkenden Beatmungsautomaten einfach nicht über die Schwelle gezogen. Überraschenderweise stellte sich das Großmütterchen

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