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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orth
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alle versammelt waren, begann Höllinger den zweiten Teil der Konferenz mit den Worten, er wolle nun die Resultate der Direktorenkonferenz zusammenfassen, die gegen Ende des letzten Schuljahres stattgefunden habe. Dort habe man unter anderem über die Ergebnisse der sogenannten
    Großen Studie gesprochen. Die bundesrepublikanischen
    Schulen seien laut dieser Studie nicht, wie gewohnt, an der Spitze der Rangliste zu finden, sondern in den unteren Regionen. Als Gründe für diesen misslichen Tatbestand habe die Studie unter anderem die in deutschen Schulen
    übertriebene Betonung des Leistungsdenkens genannt. Man habe sich nun in der Direktorenkonferenz darauf geeinigt, alles dafür zu tun, Deutschlands Schulen aus der gegenwärtigen Krise herauszuführen und wieder dorthin zurückzubringen, wo sie einst thronten, an die Spitze nämlich. Um diese Rückkehr in den Kreis der Besten zu ermöglichen, habe man gesagt, wolle man die erneuerten Richtlinien der
    Kultusministerkonferenz bezüglich der Erhöhung des
    Einsatzes von Kreativitätsdarbietungen im Unterricht
    bedingungslos akzeptieren und umsetzen. Grund für diese Maßnahme sei das in der Großen Studie bemängelte Fehlen der Fähigkeit zu selbstständigem Arbeiten seitens der
    deutschen Schülerschaft. Folglich seien wir, die Lehrer, dazu angehalten, uns das neue, soeben erschienene Methodenheft der Reihe Praxis im Unterricht mit dem Titel Lehrerhilfen zur Anleitung von Schülern für ein selbstständiges Hervorbringen von Kreativitätserzeugnissen aller Art durchzulesen und in den Unterricht einzuarbeiten. In jenem Heft sei fächerübergreifend beschrieben, was Kreativität überhaupt ist, wie die
    Bedingungen für eine Entstehung von Kreativität aussehen, welche Hirnprozesse für eine Beschleunigung des kreativen Tempos zuständig sind und wie all dies unterstützend
    vorbereitet, durchgeführt, begleitet und nachbereitet werden kann.
    In der Direktorenkonferenz, sagte Höllinger nach einer kleinen Pause, sei jedoch bezüglich einer wichtigen Frage eine heftige Diskussion entbrannt. Man habe eindringlich über das Thema der Bewertung von kreativ erbrachten Leistungen gestritten. Vornehmlich sei es dabei um die Frage nach dem Wie der sogenannten KB, der Kreativitätsbewertung, gegangen, außerdem um die Frage der juristischen
    Anfechtbarkeit von KBs. Eltern, habe man gesagt, hätten oft genug bewiesen, dass ihnen kein Gang zu einem Anwalt zu mühsam erscheine. Beim geringsten Aufleuchten einer wie auch immer gearteten Anfechtungsmöglichkeit, habe es
    geheißen, würden die Eltern sofort von ihrem Recht Gebrauch machen, ihre Töchter und Söhne vor möglichen
    Versetzungsaussetzungen oder Abiturkatastrophen zu
    bewahren. Und wenn nun, habe es geheißen, der Kreativität im Unterricht ein derart hoher, in gewissem Maße geradezu unangemessen hoher Anteil – im Vergleich zur objektiv messbaren Wissensvermittlung – eingeräumt werde, so müsse eine lückenlose Absicherung erfolgen, durch die eine
    Bewertung der kreativ erbrachten Erzeugnisse unanfechtbar werde. Das bedeute: Man müsse innerhalb der einzelnen
    Gymnasien einen detaillierten Katalog erstellen, in dem eine Bewertung von Kreativitätsleistungen Punkt für Punkt geregelt sei. Man müsse klar abgesteckte
    Kreativitätsbewertungskriterien erstellen. Zu diesem Zweck, so der Beschluss der Direktorenkonferenz, habe ein jedes Gymnasium eine Kreativitätsbewertungskriterienerstellungs-kommission, kurz KBKEK, zu gründen, die sich unverzüglich an die Aufgabe zu machen habe,
    Kreativitätsbewertungskriterien zu erstellen. Nur so könne in das drohende Chaos der ungezügelt um sich greifenden
    Kreativität ein ordnender Faden gewebt werden, nur so sei man gefeit vor juristischen Angriffen aller Art, nur so könne man den Schülern helfen, herauszufinden, was wir, die Lehrer, von ihnen, den Schülern, erwarten.

    8

    Als ich am Mittag im Zug saß, spannte sich eine nackte Leine der Leere durch meinen Geist, ich hing erschossen auf dem Sitz, ließ mich vom Zug fortfahren, stieg im Stuttgarter Kopfbahnhof mechanisch aus und nahm die U-Bahn. Ich
    kaufte mir am Stand an der Ecke einen Kebab, aß in Jacke am Küchentisch sitzend stumpf vor mich hin, kaute, biss, kaute, warf den öligen Rest des Brotes fort, putzte mir die Zähne, legte mich aufs Bett und schlief drei Stunden lang durch. Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und erwachte um fünf.
    Ich erschrak zu Tode. Ich setzte mich sofort an

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