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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orth
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unterschiedlichsten Gründen, der eine wohne nicht in Göppingen, der andere habe schwarze Haare, der Dritte sei eine Frau, der Vierte habe das falsche Fach studiert. Die Liste liege in der untersten Schublade von Höllingers Schreibtisch. Jeder wisse darüber Bescheid. Aber nur wenige hätten die Liste je gesehen. Er, Josef, habe jedoch einen guten Draht zur Putzfrau. Und die habe ihm gesagt, dass Höllinger nun auch mich, Martin
    Kranich, gleich, von Anfang an, noch vor meinem
    Einstellungsgespräch, auf die Liste gesetzt hätte. Mich? fragte ich. Ja, dich, sagte er. Aber warum? rief ich. Warum? sagte Achim Renner und grinste. Warum? sagte Pascal und sann vor sich hin. Warum? sagte Josef Jensen und hob erneut das Glas.
    Sie alle tranken einen Schluck und schwiegen.
    Man gehe unter, flüsterte Pascal plötzlich in die Stille hinein, der Einzelne, der Mensch, die Existenz, das Individuum, man werde verschluckt, verspeist, verspachtelt, zugekleistert mit Kampf und Konkurrenz, das Menschliche, das, was den
    Menschen allererst zum Menschen mache, sein Herz, die
    Erkenntnis des Herzens, all das stehe in keinem Bildungsplan, all das, das Eigentliche, das Wichtige, das Wesentliche, werde uns aus dem Innersten unserer selbst gerissen. Zu Maschinen mutierten wir, zu Monstren, zu Missgeburten unserer selbst, wenn wir uns nicht mit aller Macht den Mechanismen dieser Machenschaften erwehrten. Güte und Entgegenkommen,
    Einfühlung und Wärme müssten die Prinzipien der Lehranstalt sein, fort mit allen Sheriffspielen, aller Kontrolle und allem Anschüren des Leistungsdrucks, man müsse für die Schüler eine Aura der Angstlosigkeit schaffen, in der sie allererst die Möglichkeit hätten, zu sich selbst zu finden. Hierarchien, meldete sich Achim Renner, seien ja ganz gewiss nicht das, was man gemeinhin, und im Übrigen müsse man Kreativität ja, auf Bali zum Beispiel, wolle er sagen, habe man ein ganz anderes Menschenbild, das Wurzeldenken, das westliche, sei ja, sozusagen, ganz im Gegensatz zum Denken auf Bali, dort sei dies keinesfalls ausgeprägt, vielmehr ändere sich der Name des Menschen sozusagen mit der Geburt seiner Kinder, statt wie bei uns, und man könne sagen, auch Hierarchien müssten ja irgendwie aufzubrechen sein, sodass ein konstruktives Chaos allererst entstehen könne, um nicht in diesem
    Wurzeldenken verhaftet zu bleiben, wohingegen auf Bali, Chaos, um es kurz zu machen, sei allererst die Quelle der Kreativität. Ob er das mit dem Wurzeldenken noch mal
    wiederholen könne? fragte ich, doch Pascal ergriff wieder das Wort und sagte, Echtheit, Authentizität, von innen heraus, zu dem stehen, was man wolle, sich nicht unterkriegen lassen, sich entziehen, die pädagogische Freiheit ausschöpfen, sich über den Lehrplan hinwegsetzen, zum Eigenen zurückfinden, Ausloten dessen, was wirklich in einem vorgehe, Bildungsmüll entfernen, Wissenshalden ausmisten, echtes, menschliches Erfahren spürbar und die Stimme im Innern der Schüler hörbar machen, Befindlichkeiten – letztlich gehe es immer nur um Befindlichkeiten – Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen, Selbstoffenbarung und Infragestellung, Infragestellung seiner selbst und des Anderen, wer bin ich, wer ist der Andere, wo gehe ich hin, wo geht der Andere hin, was will ich hier, was will der Andere hier? Und nun erzählten die drei eine Fülle von Beispielen, die ihren Idealen zutiefst widerstrebten, eine Fülle von Situationen, unter denen sie litten und schleichend zugrunde gingen, und wir tranken Bier um Bier, und je mehr die drei redeten, umso heftiger stieg auch ich in die Diskussion ein, umso rückhaltloser trat auch ich aus mir selbst heraus, bis ich schließlich das Gespräch ganz an mich gerissen hatte und plötzlich in einem unüberschaubaren Schwall von Worten mein Einstellungsgespräch beim Direktor schilderte, sodass die drei verstummten und mir genauestens zuhörten, um kein Wort zu verpassen. Dann schwiegen wir. Renner bestellte eine neue Runde. Immer noch sagte keiner ein Wort. Schon dachte ich, ich hätte einen Fehler gemacht, mich zu weit aus dem Fenster gelehnt, schon wollte ich sagen, es sei ja doch alles nicht so schlimm, die Kollegen seien nett, ich hätte im Grunde
    genommen Glück gehabt mit der Schule, da meldete sich
    Achim Renner und sagte, der Direktor habe Recht. Wie er das meine? fragte ich. Das Als-ob, sagte er. Wir, der harte Kern der KG, täten doch auch nur so, als ob wir etwas ändern wollten, zu sehr seien wir verwurzelt mit

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